Bevor der Tod euch scheidet (German Edition)
der Welt gehabt. Francesca rechnete sich beim besten Willen nicht zu der Sorte von Verführungskünstlerinnen, mit denen Hart sich üblicherweise umgab. Sie war romantisch, naiv und immer noch ein wenig unerfahren. Vor allem aber war sie für ihr Geschlecht zu klug und zu ehrgeizig, und sie tat ihre Meinung lautstark kund, wenn sie es für angebracht hielt. Doch es gehörte sich nicht für eine Frau, einen hohen Intellekt zu besitzen, beruflichen Ehrgeiz zu entwickeln und aus ihren Ansichten keinen Hehl zu machen! Und erst recht hatte eine Frau nicht nach Unabhängigkeit zu streben, so wie sie das tat.
Francesca betrachtete ihren blauen Rock und die Bluse, dann drehte sie sich vom Spiegel weg und verdrängte all ihre Ängste. In den letzten zwei Wochen waren tausend Dinge gleichzeitig zu erledigen gewesen, um eine Hochzeit vorzubereiten, die ein gesellschaftliches Ereignis werden würde. Ihre Mutter Julia Van Wyck Cahill, die nicht mit dem schurkischen früheren Bürgermeister der Stadt verwandt war, würde sich mit nichts Geringerem zufriedengeben, immerhin hatte sie lange und energisch genug auf ihren Ehemann eingewirkt, damit der dieser Ehe seinen Segen gab. Gleich danach hatte sie gemeinsam mit Connie mit der Organisation der Hochzeit begonnen. In der Presbyterianerkirche in der Fifth Avenue sollte die eigentliche Zeremonie stattfinden, von dort ging es dann zum Empfang ins Waldorf Astoria. Francesca hatte Gästelisten, Blumenarrangements, Farbmuster, Sitzpläne, Schnittmuster und Stoffproben vorgelegt bekommen, letztlich aber einfach allem zugestimmt, was ihre Mutter und ihre Schwester für das Beste hielten. Daneben war eine Flut von abendlichen Einladungen auf sie eingestürzt, denen sie nur mit Widerwillen nachgekommen war. Hart hatte sich auf den Weg nach Chicago gemacht, um so viel wie möglich im Voraus zu erledigen, da er sich während ihrer Hochzeitsreise nach Paris nicht um geschäftliche Angelegenheiten kümmern wollte.
Soeben steckte Francesca ihr Haar hoch, da klopfte jemand an die Tür. Sie rechnete mit ihrer Schwester, die den Tag bei ihr verbringen und ihr später bei ihrem Kleid helfen wollte, doch herein kam eines der Dienstmädchen. „Was gibt es, Bette?“
„Der Police Commissioner ist da, Miss. Er sagt, es tut ihm leid, dass er Sie stören muss, aber er hofft, Sie haben ein paar Minuten Zeit für ihn.“
Am Tag ihrer Hochzeit erwartete sie keine Besucher mehr, nicht einmal Rick Bragg. Unvermittelt machte ihr Herz einen Satz. War etwas vorgefallen ?
Sie zögerte. In den letzten Monaten hatte sie eng mit dem Commissioner zusammengearbeitet, und sie beide hatten sich dabei als hervorragendes Team erwiesen. Er war für sie ein guter Freund, nein, eigentlich sogar mehr als das. Bevor sie Hart begegnet war – und bevor sie herausgefunden hatte, dass Rick verheiratet war, auch wenn er damals von seiner Frau getrennt gelebt hatte –, da hatte sie für ihn sehr starke romantische Gefühle entwickelt. Er war der erste Mann, den sie in ihrem Leben geküsst hatte.
Und er war Calder Harts Halbbruder.
Über ihre Gefühle für ihn wollte sie in diesem Moment ganz sicher nicht nachdenken. Vor ihnen lag ein Feiertagswochenende. Viele Mitglieder der New Yorker High Society waren bereits zu ihren Sommersitzen aufgebrochen, aber die Stadt war alles andere als ausgestorben. Und auch wenn Coney Island mit seinen Stränden ein beliebtes Ausflugsziel für die meisten Kaufleute und ihre Familien war, würde die Stadt selbst am 4. Juli so betriebsam sein wie immer. Die Slums waren überfüllt, und das Verbrechen machte ohnehin nie Urlaub.
Ganz bestimmt benötigte Bragg ihre Hilfe bei einem neuen Fall. Aber sie konnte ihm jetzt unmöglich helfen!
Sie schob eine weitere Nadel in ihr Haar, dann lief sie die breite, gewundene Treppe nach unten ins Erdgeschoss. Bragg stand in einem kleineren Salon und schaute aus dem Fenster. Die helle Junisonne tauchte das Zimmer in warmes Licht.
Draußen umgab ein wunderschön gepflegter Rasen das Cahill-Anwesen. Auf der Fifth Avenue konnte Francesca mehrere Hansom Cabs sehen, jene typischen, offenen New Yorker Zweisitzer, bei denen der Kutscher hinter dem Verdeck saß. Einige Damen waren zu Fuß auf dem von schwarz lackierten gusseisernen Gaslaternen gesäumten Bürgersteig unterwegs und schützten sich mit Parasols vor der Sonne. Der Blick auf den Central Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite war ungehindert, die vollen grünen Bäume jenseits der dunklen Mauer
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