Bevor der Tod euch scheidet (German Edition)
Schwester den Text nicht lesen konnte. Zwar schaute sie Connie an, doch ihre Gedanken überschlugen sich. Eigentlich nahm sie um sich herum gar nichts wahr. Stattdessen sah sie das Porträt vor sich, das Sarah auf Harts Bitte hin von ihr gemalt hatte. Es zeigte sie splitternackt auf einem Sofa.
Ihr gestohlenes Porträt war aufgetaucht.
Jemand hatte sie soeben eingeladen, um es ihr zu zeigen.
Sie schnappte nach Luft. Für sie gab es keinen Zweifel daran, welche Absicht mit dieser Einladung verfolgt wurde.
„Fran? Komm, ich hole dir ein Glas Wasser.“
Francesca ließ sich in einen Sessel sinken. Ihre Schwester wusste, dass ein von Hart in Auftrag gegebenes Porträt gestohlen worden war, allerdings hatte sie keine Ahnung davon, dass es sich um ein Aktgemälde handelte. Das war nur einer Handvoll Leute bekannt.
Ihr Herz raste. Sollte dieses Porträt jemals öffentlich ausgestellt werden, dann wäre das ihr Ruin, und sie würde ihre entsetzte und peinlich berührte Familie mit sich reißen.
Dass der Dieb sich ausgerechnet heute bei ihr meldete! Was beabsichtigte er damit?
„Nein, Con, alles in Ordnung!“, beteuerte sie und sprang vom Sessel auf. Es war erst halb zwölf. Bis zum Waverly Place konnte sie es in einer Stunde schaffen, vielleicht sogar noch schneller – immerhin waren etliche Bewohner in die Sommerferien aufgebrochen. Und von dort würde sie spätestens gegen drei Uhr in der Kirche eintreffen, womit ihr noch immer genug Zeit blieb, um sich für ihre Hochzeit umzuziehen.
Niemand durfte je dieses Porträt zu Gesicht bekommen!
Connie sah sie aufmerksam an. „Was ist los?“
Mit Mühe setzte sie ein Lächeln auf. „Du musst mir einen Gefallen tun, Con, einen sehr großen Gefallen …“
„Nein! Ganz egal, um was es geht, das kann warten.“ Die sonst so gutmütige Connie wurde allmählich ärgerlich.
Francesca dagegen lächelte beharrlich weiter. „Du musst mein Kleid, die Schuhe und den Schmuck in die Kirche bringen. Wir treffen uns dort um drei.“
„Auf gar keinen Fall!“, rief Connie aufgebracht.
„Connie, wenn ich mich nicht um diese … diese Angelegenheit kümmere, gerate ich in große Schwierigkeiten.“
„Kümmere dich darum, nachdem du geheiratet hast!“
„Connie, ich werde jetzt in die Stadt fahren. Um drei Uhr werde ich in der Kirche sein, das schwöre ich dir. Nichts und niemand kann mich davon abhalten!“
ZWEI
Samstag, 28. Juni 1902
12 Uhr mittags
Der Motor seines Daimlers lief noch. Rick Bragg saß einfach nur da, ohne das kleine Backsteinhaus im viktorianischen Stil, das er anstarrte, richtig wahrzunehmen. Vielmehr spielte sich in seinem Kopf immer wieder seine Unterhaltung mit Francesca ab. Er fürchtete um ihr Wohl.
Er wusste, Hart würde früher oder später ihren Untergang herbeiführen. Die Seele seines Bruders war finster und egoistisch. Der Mann war grausam und nur an sich selbst interessiert. Von Zeit zu Zeit brachte er es zwar fertig, sich einmal von seiner ehrbaren Seite zu zeigen, letztlich lief jedoch alles darauf hinaus, dass er notfalls auf Kosten aller seinen Willen durchsetzte. So selbstlos Francesca war, so ichbezogen war Hart. Es konnte keine schlimmere Paarung als diese beiden geben.
Allerdings war er selbst alles andere als ein neutraler Beobachter. Bragg fürchtete sich davor, die Vergangenheit in sein Gedächtnis zurückzuholen, die ihn mit Francesca verband. Er hatte Angst, dass damit auch zu viele alte Gefühle wieder zum Vorschein kommen würden. Ihm war klar, dass er nicht an ihre erste Begegnung zurückdenken durfte, auch nicht daran, wie er von ihr hingerissen gewesen war und wie sie sein leidenschaftliches Interesse erwidert hatte. Er durfte nicht an ihre Diskussionen und ihre gemeinsamen Ermittlungen denken … und auch nicht an die Küsse und Liebkosungen. Das wäre falsch von ihm.
Nachdem sie ihn vier Jahre zuvor verlassen hatte, war seine Frau unerwartet zu ihm zurückgekehrt, und so seltsam das auch für ihn war und sosehr er sich über ihr Verhalten geärgert hatte, war es dennoch zu einer Versöhnung gekommen. Außerdem hatte Francesca, noch bevor sie Harts Charme erlegen war, den Gedanken rundweg abgelehnt, dass er sich scheiden lassen könnte. Zwar sprach er selbst nie offen darüber, doch in den höchsten Kreisen munkelte man, er werde eines Tages für ein politisches Amt kandidieren, möglicherweise für den US-Senat. Mit einer Scheidung würde er sich aber aller Chancen auf einen Sieg berauben.
Er hatte sich die Suppe
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