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Bevor du gehst

Bevor du gehst

Titel: Bevor du gehst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Preller
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auch noch das letzte Tröpfchen Lebensfreude auszutreiben. Mr. Fox machte aus einer simplen Sache wie dem Laufen höhere Mathematik. Er maß jeden Schritt, jeden Kilometer: ein Mann über vierzig, der noch immer seiner PBZ (persönlichen Bestzeit) hinterherjagte. Trotzdem musste Jude zugeben: Sein alter Herr war wirklich gut in Form.
    »Ist Mom drinnen?«, fragte Jude.
    »Ja, ähm, sie ist oben, hat sich hingelegt«, erwiderte Mr. Fox. »Die Hitze und …«
    »Kein Problem«, meinte Jude. »Hab schon in der Arbeit gegessen.«
    »Ach, stimmt. Du hast ja heute gearbeitet! Wie ist es gelaufen?«
    »Ziemlich gut. Hab einen Papierhut gekriegt.«
    Jude schenkte sich die Details, denn er sah, dass sein Vater sowieso nur halb zuhörte. Mr. Fox legte zwei Finger an die Halsschlagader und bewegte die Lippen, als er seinen Puls zählte.
    »Viel Spaß«, sagte Jude.
    »Ich mache heute den Bender Hill, fünfmal rauf, fünfmal runter«, kündigte Mr. Fox an. »In ungefähr fünfundsechzig Minuten müsste ich wieder da sein.«
    Genau, ungefähr. Jude war schon auf halber Strecke zur Tür und antwortete nicht. In dem Haus gab es nie genügend Licht. Wie heute konnte draußen der schönste Tag sein, und drinnen merkte man nichts davon. Ein Grund dafür waren die verwilderten Büsche vor den Fenstern und eine turmhohe Kiefer, die zu nah am Fundament stand. Sie tauchte das Gebäude in tiefe Schatten, und ihre Wurzeln hatten den Gartenweg verbeult. Als Jude fragte, warum seine Eltern den Baum nicht einfach fällten, wandte sein Vater den Blick ab, und seine Mutter antwortete, dass der Schatten das Haus im Sommer kühl hielt. Außerdem bleichte Sonnenlicht, wie sie beim Zuziehen der Vorhänge immer wieder betonte, die Teppiche aus.
    Judes Mutter mochte es kühl und dunkel und hatte dem Licht schon vor langer Zeit den Krieg erklärt. Ständig ließ sie die Jalousien herunterschnappen, zog die Vorhänge zu und lief in dünnen, weißen Pullis herum. An guten Tagen ging Mrs. Fox zum Mittagessen in den Club oder lupfte beim Tennis mit den Damen Bälle von Grundlinie zu Grundlinie. Doch die guten Tage wurden anscheinend immer seltener. Sie war eine nervöse Frau und litt an sogenannten Clusterkopfschmerzen, die sie zwangen, sich in ihr abgedunkeltes Schlafzimmer zu verkriechen und dort viele Stunden zu liegen. Angeblich verschlimmerte Sonnenlicht die Kopfschmerzen.
    Es war ein dunkles, abweisendes Haus, in das Pflanzen nur zum Welken und Sterben kamen. Judes Vater hatte es aufgegeben, zu Ostern Lilien und zu Weihnachten Christsterne zu kaufen, und stattdessen an einem Feiertag einen Gummibaum aus Plastik mitgebracht. Den konnte nicht einmal Judes Mutter mit ihrer Vergesslichkeit umbringen.
    Jude duschte und zog sich an. Im Gang zögerte er vor der geschlossenen Tür des Schlafzimmers und sperrte die Ohren auf, um vielleicht etwas zu hören.
    »Jude?«, rief seine Mutter.
    »Ja, ich bin’s, Mom. Wie geht’s dir heute?«
    Langes Schweigen. »Entschuldige bitte. Ich hab lei der nichts für dich in der Küche.« Ihre Stimme klang gedämpft, als läge sie halb in ein Kissen vergraben.
    »Schon gut, Mom. Ich bin satt.« Jude überlegte, ob er ihr von der Arbeit erzählen sollte und von dem Mädchen, das ihn davor bewahrt hatte, von drei Kleiderschränken verprügelt zu werden, aber irgendwie fand er es komisch, sich durch die Tür zu unterhalten. Er legte die rechte Hand auf die Tür, wie um sie aufzuschieben, und sah seine Finger als die Beine einer fleischigen Spinne, die zitternd dort hockte. Jude lehnte den Kopf an den Rahmen und schloss die Augen. In der Stille wartete er auf ein Ereignis, auf eine Veränderung. Aber es geschah nichts.
    Es geschah nie etwas.

6
    Um sieben kam Corey vorbei. Er wohnte um die Ecke, und Jude war wahrscheinlich der erste Freund, den Corey nach seinem Umzug in das Viertel gefunden hatte. Vor fast neun Jahren war das gewesen, noch in der zweiten Klasse. Corey gehörte zu den Jungs, die es nicht aushielten, daheim rumzusitzen; seine Eltern waren total streng und megareligiös, also besuchte er lieber andere Leute und saß bei denen rum. Aß auch dort. Meistens ließen Judes Eltern die beiden machen, was sie wollten, und so war es für alle Beteiligten eine gute Sache.
    »Wohin?«, fragte Jude. »Unten oder …?«
    Corey deutete. »Rauf. Okay?«
    Sie machten einen kurzen Umweg über die Küche, wo sich Jude eine Tüte Salzbrezeln schnappte.
    »Jemand zu Hause?«, fragte Corey.
    »Ja, sie sind irgendwo hier«,

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