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Bevor du gehst

Bevor du gehst

Titel: Bevor du gehst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Preller
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reinbohrten. Also zog Jude den Kopf ein und beschäftigte sich mit den Apps auf seinem Handy. Das hatte die gewünschte Wirkung. Nach einem frotzelnd geleierten »Mooorgen, Jude« streifte Dani an ihm vorbei, um sich zu einem anderen Mädchen zu stellen, das ein Pepsi Light in der Hand hatte.
    Dann kam der Bus, und alle schoben sich schlurfend hinein. Jude sicherte sich einen Platz weiter hinten, steckte sich die Ohrstöpsel rein, suchte Cure auf seinem iPod und starrte auf der Fahrt Richtung Süden auf dem Wantagh Parkway zum Fenster hinaus. In letzter Zeit war Jude ganz besessen von Cure, vor allem von den besten Stücken auf Disintegration. Die Band hatte ihren Höhepunkt schon Anfang der Neunziger gehabt, doch Jude mochte sie trotzdem. Musik war Musik; es spielte keine Rolle, ob ein Song vor fünfzig Jahren in Liverpool oder vor fünf Minuten hinter irgendeinem Holzschuppen entstanden war. Die guten Songs blieben , und der Rest wurde vergessen. An manchen Tagen hörte sich Jude »Pictures of You« in einer Endlosschleife an, um sich in dem Wechselspiel von Gitarre, Synthesizer und Bass zu verlieren. Dass die Stücke von Cure oft düster und melancholisch waren, machte die Sache nur besser. Auf ihre poppigeren, radiotauglichen Nummern stand Jude nicht so. Er selbst spielte seit acht Jahren Gitarre und übte vier-, fünfmal die Woche. Die Gitarre war seine Zuflucht. Eine Tür, die die Welt ausschloss, und ein Fenster, das ihn mit etwas anderem verband, ein Riss in der Raumzeit, durch den er stundenlang dem Alltag entrinnen konnte. Nicht ohne Grund hatte Jude das Gefühl, dass ihm die Musik das Leben gerettet hatte. Außerdem machte die Musik sowieso alles besser – sogar eine Busfahrt zu einer ganz besonderen Scheiße mit dem Titel »Mein erster Arbeitstag«.
    Beim großen Kreisverkehr an der Hauptpromenade, der Central Mall, drängten die Leute aus dem Bus. Das war das belebteste Gewerbegebiet von Jones Beach, der grob in bestimmte Zonen unterteilt war. Der berühmte Wasserturm kündigte einen Strandeingang für Besucher an. Wie eine Ikone ragte er fünfundsiebzig Meter hoch in den Himmel und beherrschte den flachen Horizont wie ein gereckter Mittelfinger. Kleine Kinder nannten ihn den Bleistift, meistens mit einem fröhlichen Quieken, weil er ihnen zeigte, dass sie endlich da waren. Da sind wir schon, ihr glücklichen Strandgänger, jetzt zahlt eure Parkgebühr und schnappt euch ein Stück Sand.
    Jude kehrte dem Turm den Rücken und steuerte wie alle anderen auf den Bohlenweg zu – wenn er nicht zwischen die vorbeifahrenden Autos laufen wollte, blieb ihm gar nichts anderes übrig. Dann wandte er sich nach rechts zur Verwaltung, wo er sich melden sollte. Das Ding war nicht viel mehr als ein aufgemotzter Wohnwagen, der verdeckt von zotteligen Büschen hinter der Männertoilette stand. Jude bemerkte die Duschen und Spinde, die sicher nützlich waren, falls er am Morgen zur Arbeit laufen wollte.
    In der offenen Tür zögerte er beim Anblick eines kleinen, dünnen Manns in mittleren Jahren, der mit weißem Kurzarmhemd und schwarzer Krawatte hinter einem grauen Metallschreibtisch saß. Der Typ, offenbar von der Chefsorte, hatte sehnige, mit dichtem Ringelhaar bedeckte Arme wie irgendeine Waldkreatur, die auf Bäumen herumklettert. Seine Kiefermuskeln bearbeiteten einen Kau gummi. Auf dem Namensschild vorn am Schreibtisch stand KEATING . Der Typ hing am Telefon und lauschte ungeduldig, ehe er Anweisungen bellte wie zum Beispiel: »Wir müssen diese Gefrierschränke reparieren, verdammt, sonst haben wir fünfzehnhundert Pfund aufgetautes Rinderhack am Hals!« Falls er Jude bemerkt hatte, dann machte sich Keating nicht die Mühe aufzublicken. Selbst nachdem er sein Telefon zugeklappt hatte, ignorierte er Jude weiterhin und mahlte stattdessen konzentriert auf seinem Kaugummi herum, während er sich gleichzeitig mit einem Bleistift an die Schläfe tippte.
    Klopf, klopf, klopf. Jemand zu Hause?
    Jude durchschaute Keatings Aufführung: eine willkürliche, überflüssige und nicht besonders beeindruckende Machtdemonstration. Also sagte Jude: »Ähm, hi, entschuldigen Sie, ich …«
    Keating hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Hock dich auf eine Bank, Junge. Der Wagen kommt in ein paar Minuten zurück. Wohin fährst du?«
    »Wohin ich fahre?« Jude wunderte sich. »Bin gerade erst gekommen.«
    Keating hob das Kinn, um Jude zu mustern. Der Gastromanager hatte eine schlanke Figur und ein kantiges Kinn. Er war

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