Bevor ich verbrenne
Dynestøl abgeholt hatten. Und dass sie damals aus diesem Haus, aus diesem Ofen die Asche mitnahm.
Es war durchaus nicht ungewöhnlich, Kranke bei sich wohnen zu haben. Die meisten kamen aus der Psychiatrie von Eg bei Kristiansand; sie wurden auf den Höfen der Gegend untergebracht, in der Hoffnung, dass der Aufenthalt für ihren Heilungsprozess förderlich sei. Zugrunde lag die alte Idee von den Segnungen der Arbeit. Sie sollten etwas anderes erleben als das Grau der Anstalt, ihr ruhiggestelltes Leben. Hinaus an die Luft. Den Körper einsetzen, etwas tun. Hinaus in die Sonne, in den Regen, hinaus in den Wind und die Kälte. Vielleicht würde ja allmählich eine Besserung eintreten. Vielleicht würden sie sogar gesund und könnten ins normale Leben zurückkehren. Außerdem bekam man ein paar Kronen, wenn man einen Patienten bei sich aufnahm. Im Grunde eine gute Idee, nur funktionierte es häufig nicht so, wie man es sich erhofft hatte. Es gibt einige Geschichten über die Kranken, allerdings kenne ich die näheren Umstände nicht. Ich weiß, dass Olga im Laufe der Jahre viele Patienten auf ihrem Hof hatte, aber ich weiß so gut wie nichts über diese Menschen. Wie sie hießen, wer sie waren, was sie bei ihr taten. Wie lange sie blieben. Und wo sie dann hinkamen. Ob sie gestorben sind oder noch leben. Ich weiß nichts, und niemand von denen, die ich gefragt habe, konnte mir weiterhelfen.
Nur die kurze Geschichte von der Asche.
Sie geht so:
Olga sah sich offensichtlich nicht in der Lage, die Patientin noch länger bei sich wohnen zu haben. Die Patientin fing an, lautstarke Diskussionen mit dem Herrgott zu führen; das hatte sie schon seit längerer Zeit getan, doch als sie wiederholte Male versuchte, den Erlöser mit einem Zaunpfahl vom himmlischen Thron zu stoßen, wurde es Olga zu viel. Die Patientin konnte nicht mehr länger bei ihr wohnen, allerdings gab es in Eg auch keinen Platz für sie. Also musste sie nach Gaustad in Oslo gebracht werden. Es war eine Reise von über vierhundert Kilometern, und Olga hatte kein Auto. Daher fragte sie Großvate r – er besaß doch einen Nash Ambassador aus dem Jahr 1937 mit einer kleinen Beule am Kühle r –, ob er sich vorstellen könnte, die Patientin und Olga den weiten Weg in die Hauptstadt zu fahren. Großvater sagte zu, Großmutter und mein Vater kamen auch mit, weil niemand sonst auf ihn hätte aufpassen können. An einem Junitag des Jahres 1947 startete das schwarze Automobil frühmorgens auf dem Hof in Kleveland, und die kleine Familie fuhr los. Nach einigen Kilometern hielten sie vor dem Haus in Dynestøl. Großvater stieg aus und klopfte. Es dauerte eine Weile, bis Olga öffnete. Wie sich herausstellte, hatten die Patientin und sie das gesamte Haus geputzt, vom Keller bis zum Dachboden; nun mussten sie nur noch die Asche aus dem Ofen räumen, und dabei waren sie durch Großvaters Klopfen unterbrochen worden. Weitere Minuten vergingen, bis alle bereit zur Abreise waren, und kurz bevor die Patientin sich ins Auto setzte, kehrte sie die Asche aus dem Ofen im Wohnzimmer, füllte sie in eine Vorratsdose und steckte die Dose in ihre Reisetasche. Dann war auch sie bereit. Es war das Einzige, was sie mitnehmen wollte: eine Vorratsdose voller Asche, die sie in ihre Tasche gestopft hatte. So saß sie eng neben den anderen und hielt gut vierhundert Kilometer ihre Tasche im Arm.
Kurz nach Großmutters Tod im Winter 2004 tauchte eine Fotografie auf. Ich hatte sie noch nie gesehen. Das Bild zeigte meinen Vater. Er war vielleicht vier Jahre alt, und es war Sommer, denn er trug eine kurze Hose und ein kurzärmliges Hemd. Er saß auf einem der Bronzelöwen vor Kunstnernes Hus in Oslo und lachte in die Kamera. Ich kannte die beiden Löwen nicht, als ich die Fotografie in der Hand hielt; ich wusste nicht, dass sie noch immer an genau der gleichen Stelle stehen und auf beiden Seiten des Eingangs die Fahnenmasten umklammern. Vater hatte dasselbe lockige Haar wie auf dem Kinderbild des Fotografen Harme in Kristiansand, der das Foto mit falschen Farben handkoloriert und ihn wie einen kleinen bronzenen Engel hatte aussehen lassen. Als Kind weigerte ich mich konsequent zu glauben, dass es sich auf dem Foto um meinen Vater handelte. Ich behauptete, es wäre ein Engel.
Das Foto muss während der Reise nach Oslo entstanden sein, vermutlich nachdem sie die Patientin und die Asche in der psychiatrischen Anstalt von Gaustad abgeliefert hatten. Die lange Reise hatte ein Ende, sie waren
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