Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
vorbei und suchte weiter den Markt ab. Säcke mit Khat standen neben den Schubkarren der Geldwechsler, die mit nahezu wertloser Währung beladen waren. Durch die Inflation wurde der Wert der Scheine nicht anhand der aufgedruckten Zahlen berechnet, sondern in Kilo. An mehreren Ecken sah man Leute, die Medikamente verkauften, vermutlich gestohlene Ware aus Hilfspaketen, die nicht zu den Bedürftigen vordrangen, ehe mindestens zwei bis drei Zwischenhändler davon profitiert hatten. Warwick war froh, dass er daran gedacht hatte, ausreichend Insulin mitzubringen. Er hatte es schon einmal in der afrikanischen Einöde vergessen, eine Erfahrung, die man nicht ungestraft machte.
Dann entdeckte er endlich das, wonach er suchte. Ein junger Kerl hatte seine Decke auf dem engen Raum zwischen zwei anderen Händlern ausgebreitet und mit Computern und anderen Elektrogeräten überhäuft, dazwischen lag afrikanisches Kunsthandwerk. Das meiste war alter Schrott, verdreckt und kaputt, der wohl ziemlich fundierte technische Kenntnisse erforderte, wollte man ihn jemals wieder zum Laufen bringen. Ganz oben auf diesem Stapel aber thronte ein Laptop.
Warwick kniete sich hin und ließ seine Finger über den Deckel gleiten, ehe er ihn öffnete. Er versuchte seine Erregung über den Fund zu dämpfen. Die Oberfläche des Laptops war zerkratzt und schmutzig, die Tastatur jedoch intakt. Der Rechner hatte einige Jahre auf dem Buckel, aber die Kratzer schienen neu. Es war ein HP Pavillon, ein weder besonders teurer noch zuverlässiger Rechner, aber nichtsdestotrotz ein ungewohnter Anblick auf einem Markplatz in Mogadischu.
»Ich weiß noch nicht, ob er zu verkaufen ist. Ein ganz neuer Computer. Vielleicht behalte ich ihn auch selbst.«
Warwick sah zu dem Verkäufer auf, der verglichen mit dem Gerümpel, das ihn umgab, überraschend gut gekleidet war. Er konnte höchstens zwanzig sein und hatte vermutlich gerade seinen gesamten englischen Wortschatz verwendet. Ohne weiter auf den Mann einzugehen, nahm Warwick den Laptop, fand die Einschalttaste und drückte sie.
»Hundert Dollar«, sagte der Verkäufer.
Die örtliche Währung waren Shilin, aber der Handel fand ausschließlich in Dollar statt.
»Ich will ihn nicht kaufen«, entgegnete Warwick, »ich möchte nur wissen, wo du ihn herhast.«
Der Verkäufer schüttelte den Kopf, als hätte er Warwick nicht verstanden.
»Hundert Dollar«, wiederholte er.
Warwick sah dem Verkäufer jedoch an, dass er sehr wohl verstanden hatte. Das zufriedene Brummen des Computers verriet derweil, dass das Betriebssystem auf jeden Fall noch funktionierte und eine reale Chance bestand, das, was sich auf der Festpatte verbarg, noch zu retten.
»Fünfzig Dollar.«
Warwick stand auf und hielt den Computer vor sich. Der Verkäufer beobachtete ihn aufmerksam, um schließlich auf die andere Seite der Decke zu kommen. Hastig wich Warwick zurück und achtete darauf, jede Bewegung des Händlers zu registrieren und seinen Blick festzuhalten.
»Ich frage nur noch einmal: Wo hast du ihn her?«
*
Genau darum ging es ja! Um die Freiheit, etwas zu bewirken. Deshalb kehrten ihre Gedanken zu der Zeit in Gaza zurück.
Wieder an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt, schlug Linnea so energisch mit der Hand auf den Tisch, dass eine Staubwolke aus dem Karton vor ihr aufwirbelte. Hier im Keller unter dem Panum-Gebäude befand sich die beeindruckende Skelettsammlung. Aber Linnea war außerstande, sich auf die Knochen zu konzentrieren, mit denen sie hier eigentlich arbeiten wollte. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um Thor und seine beharrlichen Versuche, Linnea zu einem Teil seiner kleinen Familie zu machen. Fast hegte sie den Verdacht, er hätte sie an jenem Morgen absichtlich mit Maja allein gelassen. Als würde sie sich dem Familienkult anschließen, sobald man sie mit ein wenig kindlichem Charme konfrontierte. Was keineswegs der Fall war, ganz im Gegenteil, und das hatte sie ihm auch klargemacht. Ausdrücklich. Aber sie hatte ihre Gedanken über Gaza nicht erwähnt, weil sie sich nicht sicher war, ob er sie verstehen würde.
Linnea musste immer wieder an ihre Zeit im Herbst als freiwillige Helferin im Gazastreifen denken. Dort war sie dafür zuständig gewesen, vermeintliche Menschenrechtsverletzungen bei palästinensischen Gefangenen zu untersuchen, die in israelischem Gewahrsam gewesen waren. Inzwischen hatte sie schon an etlichen Hilfseinsätzen auf der ganzen Welt teilgenommen. Meistens war es darum gegangen, Leichen zu
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