Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
identifizieren. Teils stammten sie aus Massengräbern, die von den brutalen Massakern eines Bürgerkriegs zeugten, teils waren es Opfer großer Naturkatastrophen, die viele Menschenleben gekostet hatten und den Toten noch dazu jene Kennzeichen geraubt hatten, anhand derer man sie normalerweise identifizieren konnte. In solchen Fällen konnten Linnea und ihre Kollegen mithilfe von Skelettresten nach und nach die Ethnie, das Geschlecht und das Alter der namenlosen Opfer feststellen und sie zu ihren Angehörigen zurückbringen. Genauso, wie sie blutige Übergriffe nachweisen und dokumentieren konnten, die bei dem Versuch begangen wurden, ganze Menschengruppen aus der Geschichte auszulöschen. Sie konnten das Geschehene natürlich nicht ungeschehen machen, aber wenigstens dafür sorgen, dass der Tod Unschuldiger im kollektiven Gedächtnis verhaftet blieb.
In Gaza hatte Linnea zum ersten Mal mit lebendigen Menschen gearbeitet, und vielleicht hatte ihr Leid sie deshalb härter getroffen, als sie es gewohnt war. Noch immer überkam sie eine große Traurigkeit, wenn sie an den tränenerstickten Mann dachte, dessen sechzehnjährigem Sohn bei einer Festnahme durch die israelische Militärpolizei sämtliche Finger der rechten Hand gebrochen worden waren.
»Sind Sie meine Zeugin?«, hatte er sie eindringlich gefragt. »Sie müssen das für mich vor der Welt bezeugen!«
Es war grauenhaft, mit den unerträglichen Lebensumständen dieser Menschen konfrontiert zu werden, aber sie war zugleich froh, dass sie daran erinnert wurde, warum sie sich einst für diesen Beruf entschieden hatte. Und warum sie selbst so lebte, wie sie lebte.
Linnea seufzte. Zugegebenermaßen war sie von Natur aus nicht unbedingt ein Familientier, aber das allein war es nicht. Ihr Leben wäre hundertmal einfacher gewesen, wenn sie sich mit einem geregelten Bürojob und einem Familienleben zufriedengegeben hätte. Aber sie benötigte die Freiheit, jederzeit aufzubrechen, wenn sie gebraucht wurde. Sie musste etwas bewirken können. Nicht nur Mutter sein, eine Arbeit und eine Beziehung haben. Sondern wirklich etwas dafür tun, dass die Welt ein besserer Ort wurde, indem sie sich auf die großen Aufgaben stürzte. Und große Aufgaben erforderten große Opfer.
12
W ie konnte ich glauben, dass ich ausgerechnet in Gottes Haus unentdeckt bleiben würde?
Mehrere Menschen in meiner Reihe drehen sich nach mir um. Ich ziehe die Jacke enger um meinen Körper, schlage die Beine übereinander, um die Spuren meiner Sünde zu verstecken. Ein Junge zerrt seine Großmutter am Arm und deutet in meine Richtung. Ich versuche die Panik zu verbergen, die von meinem Körper Besitz ergreift, und warte auf eine Gelegenheit, mich hinauszuschleichen. Wenn ich nur sicher wäre, dass meine Beine mich tragen. Die Gemeinde spricht gerade das Glaubensbekenntnis mit, immer lauter, und der Prediger sieht mir direkt in die Augen, als er sagt: »From thence He shall come to judge the living and the dead.«
Ich winde mich unter seinem Blick. Ich hatte gedacht, er könne mich trösten, aber stattdessen spricht er über mich. Ich weiß es. Doch dann lässt er mich gehen, sein Blick wandert zu meinem Nebenmann. Ich bin verwirrt, Herr: Gibt es überhaupt Erlösung für mich? Und liegt die Erlösung darin, zu fliehen oder gefangen zu werden? Ich weiß nicht länger, was ich mir am meisten wünsche – und was ich am meisten fürchte. Weiß nur, dass ich hier nicht bleiben kann. Du beschützt mich nicht mehr, deine Kinder betrachten mich nicht länger als ihre Schwester. Sie starren mich an und tuscheln.
Der alte Mann auf dem Stuhl neben mir schielt weiter zu mir herüber. Er zupft an seinem Bart, zwirbelt ihn und wickelt ihn um den Zeigefinger, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Jetzt dreht er sich um und nickt einem Mann in der nächsten Reihe zu. Gibt er ihm Zeichen? Ich drehe meinen Kopf ein wenig und beobachte, wie ein jüngerer Mann ein Handy aus der Tasche zieht. Ich zähle bis zehn, versuche mir einen Plan auszudenken, wie ich den Raum diskret verlassen kann, aber es ist zu spät.
Alle stehen gleichzeitig auf, Plastikklappstühle stoßen gegeneinander. Ich stoße einen lauten Schrei aus, als mein Nebenmann seinen knochigen Arm nach mir reckt. Ich schiebe ihn weg, stoße mehrere Stühle um. Dann habe ich den Vorhang erreicht und bin kurz darauf endlich wieder in der Kälte und Dunkelheit. Als ich das Tor erreiche, kann ich noch immer die klangvolle Stimme des Predigers
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