Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
betrachtete, berührte es genau den Kern dessen, womit er sich in seinem Studium beschäftigt hatte und was mit all seinen praktischen Ansprüchen einer der Gründe war, warum er die Arbeit als Geheimdienstler so stimulierend fand: die Frage, wie weit man gehen durfte, um das Gute zu erreichen.
»Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht«, schrieb Kant vor über zweihundert Jahren, »der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« Dem Philosophen kam es darauf an, immer korrekt zu handeln, ohne dabei die Folgen seiner Handlung zu berücksichtigen. Und auf der anderen Seite stand der Utilitarist Jeremy Bentham, für den die gute Handlung jene mit den bestmöglichen Konsequenzen war. Warwick war immer ein Verfechter des Letztgenannten gewesen, was allerdings nur bedeutete, dass die Ansprüche an das eigene Handeln wuchsen. Oder wie es das Bob-Dylan-Zitat formulierte, das einer seiner Kollegen im Kastellet über seinen Computer gehängt hatte: »To live outside the law you have to be honest.«
»Ich habe ihn gestern gekauft«, erklärte der Händler jetzt. »Ich kenne den Typen nicht.«
»Hatte er noch mehr davon?«
Der Händler schüttelte den Kopf, und Warwick hob den Fuß, als wolle er zutreten, woraufhin der Mann jedoch nur umso mehr auf seiner Antwort beharrte. Also nahm Warwick seinen Fuß weg und ließ die Hand los. Der Verkäufer blieb im Staub liegen, verunsichert, was nun passieren würde. Warwick nahm den Laptop, klappte ihn zusammen und holte hundert Dollar aus seiner Tasche. Demonstrativ glättete er die Scheine und ließ sie neben den Mann auf den Boden flattern. Dann wollte er gehen, entdeckte jedoch im selben Moment noch etwas zwischen dem Gerümpel. Er bückte sich und hob eine verzierte Koor auf, eine ausgehöhlte Kamelglocke aus Holz, wie sie die Nomaden früher verwendet hatten. Dann holte er einen weiteren Fünfdollarschein hervor und reichte ihn dem Händler, der sich gerade aufrappelte.
»Genau das Richtige für Lise«, sagte er auf Dänisch.
14
D u solltest Nikolajsen aus dem Weg gehen. Sieht so aus, als wollte er dir eine Standpauke halten.«
Überrascht blickte Linnea auf. Sie war in Gedanken bei dem Toten von der Badeanstalt gewesen. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass seine Verletzungen ihr etwas sagen müssten. Etwas Wichtiges. Aber sie kam nicht darauf. Es war ein Problem, eine so umfangreiche Arbeit innerhalb so kurzer Zeit erledigen zu müssen. Vielleicht sollte sie sich den Obduktionsbericht noch einmal angucken, um einen Denkanstoß zu bekommen. Linnea hatte überhaupt nicht bemerkt, dass noch jemand in dem großen Raum war, in dem Kisten mit Knochenresten sorgfältig aufgereiht in langen Metallregalen lagerten. Sie musste schon ziemlich geistesabwesend gewesen sein, um die eins neunzig große nordschwedische Matrone zu übersehen, deren rote Locken sie noch um zusätzliche drei Zentimeter größer machten. Louise Anckarstierna war eine der Doktorandinnen und immer äußerst gut über alles informiert, was im Haus so vorging. Wenn sie sagte, dass der stellvertretende Direktor mit ihr auf Kriegsfuß stand, würde es schon stimmen.
»Es geht um irgendeine rechtsmedizinische Untersuchung, in die du dich eingemischt hättest.«
»Das war nur eine inoffizielle Leichenschau. Ein Freundschaftsdienst. Keinerlei Formulare oder Unterschriften, wenn es das ist, was er befürchtet.«
Louise zuckte mit den breiten Schultern – eine Bewegung, die bei ihr alles andere als graziös aussah.
»Kann ich nicht sagen. Ich habe nur die Worte ›unprofessionell‹ vernommen und irgendetwas mit ›Kompetenzüberschreitung‹, und ›Trennung von Beruflichem und Privatem‹. Na ja, und dann ziemlich viele dänische Flüche, die ich noch nicht gelernt habe.«
»Danke für die Warnung.«
Louise zog von dannen, und Linnea versuchte sich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren. Die Gesundheitswissenschaftliche Fakultät in Kopenhagen besaß eine einzigartige Skelettsammlung, deren Knochenfunde teilweise bis zu achttausend Jahre alt waren. Die elektronische Katalogisierung aller Bestandteile mit Hilfe von Datenbanken und Strichcodes war ein umfangreiches Unterfangen, an dem Linnea selbst mitgewirkt hatte. Im Herbst hatte es jedoch eine Überschwemmung gegeben, die sie und die Kollegen gezwungenermaßen in die alte Zeit der Karteikästen zurückversetzte, und seither hatten die Mittel nicht ausgereicht, um den Rückschlag
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