Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
auszugleichen. Sie liebte diesen Ort und all das Wissen, das er barg. Sowohl das Wissen, das bereits registriert und analysiert war, als auch jenes, das bisher niemand in einen Zusammenhang eingeordnet hatte. Das lag nicht zuletzt daran, dass ständig neue Methoden entwickelt wurden, um das Wissen über die Vorfahren des Menschen zu erweitern und damit auch neue Erkenntnisse über die Menschen der Gegenwart zu erlangen.
Hier gab es keine schwierigen Beziehungen, Gefühle oder Opfer. Hier gab es nur die Wissenschaft, zu der man sich rational verhalten musste, und das methodisch gewonnene Wissen.
In einer der letzten Regalreihen fand Linnea die Knochenreste, die sie zu einer vergleichenden Analyse eines weiteren Skelettfundes verwenden konnte, auf den man beim Bau der neuen Metro gestoßen war. Sie beschloss, im Keller weiterzuarbeiten, anstatt alles ins Labor zu schleppen. Ihre Notizen konnte sie genauso gut hier machen – und zwar nicht, weil sie Nikolajsens vermeintlichem Zorn ausweichen wollte. Sie konnte sich genau vorstellen, wie er sich über die hohen Ansprüche ausließ, die man erfüllen musste, wenn man mit Toten zu tun hatte. Als ob sie weniger professionell wäre, nur weil sie bei einer Ermittlung aushalf, die ansonsten schon nach einem halben Tag ins Stocken geraten wäre. Sie hatte gehofft, dass Collin direkt zu Morewski gehen würde und nicht zu Nikolajsen, wenn er sich schon über ihre Einmischung draußen bei der Badeanstalt beschweren musste. Dann wäre sie dem Ärger bestimmt entgangen. Der alte Professor Morewski hielt aus irgendeinem Grund immer noch seine schützende Hand über sie. Beim Gedanken an den bevorstehenden Anpfiff begannen ihre Wangen zu glühen, aber wenn ihr Einsatz dabei helfen konnte, Anisa Dini Farah zu finden, wäre das wichtiger als alle rigiden Regeln von Nikolajsen.
Sie betrachtete den Schädel, den sie vor sich auf den Tisch gelegt hatte, und musste Clyde Snow zum hundertsten Mal recht geben.
»Knochen sind gute Zeugen«, hatte er gesagt. »Natürlich können sie nicht sprechen, aber dafür lügen sie auch nicht, und sie vergessen nichts.«
Im Laufe ihres Studiums hatte Linnea an mehreren Vorlesungen des weltberühmten Professors der Forensischen Anthropologie an der Universität von Oklahoma teilgenommen. Seine Erfolgsbilanz umfasste so prominente Leichen wie Tutanchamun, Josef Mengele und John F. Kennedy, und seine Worte hielten immer noch stand: Mit zunehmender Erfahrung konnte sie den Beobachtungen des alten Professors immer mehr zustimmen. Jetzt saß sie beispielsweise vor dreitausend Jahre alten Knochen und erfuhr von ihnen mehr und mit einer geringeren Fehlerquote als Thor von seiner Augenzeugin, wenn sie denn je auftauchte. Lebende Zeugen waren in so vielen Punkten unzuverlässig – sie konnten von ihren eigenen Vorurteilen beeinflusst werden, von Interessen, mangelndem Erinnerungsvermögen und nicht zuletzt auch durch Druck von außen. Und manchmal liefen sie einfach davon.
Linnea lächelte vor sich hin. Das wäre doch eine wichtige Ergänzung zu Clyde Snows Worten: ›Knochen sind gute Zeugen: Sie können nicht weglaufen.‹
*
Der Cafébesitzer stellte den Tee vor Warwick auf den Tisch und verschwand, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Warwick war das nur recht. Das Café war selbst für hiesige Verhältnisse nicht unbedingt einladend, aber es lag in der Nähe des Marktplatzes und bot viele dunkle Ecken, von denen aus man alle Ein- und Ausgänge im Blick hatte. Er wartete, bis der Besitzer ganz verschwunden war, und nahm einen Schluck von seinem Shaah, der wie so oft in Ostafrika zusätzlich gewürzt war. Er schnupperte daran. Kardamom und Nelken waren auf jeden Fall enthalten, und der Tee wirkte bedeutend appetitlicher als das Gesöff, das ihm Ali Hassan auf der Polizeiwache vorgesetzt hatte.
Dann vergewisserte er sich erneut, dass ihn niemand beachtete, und öffnete den Laptop. Eine Sekunde verstrich, in der er fürchtete, der Computer sei abgestützt, aber dann tauchte die Taskleiste auf, ohne dass ihm zuvor ein Passwort abverlangt wurde. Die meisten Dokumente auf dem Desktop waren englisch, und er brauchte nur eins davon zu öffnen, um festzustellen, dass er einen Treffer gelandet hatte. Es war der Entwurf zu einem Brief, dessen Inhalt zwar uninteressant war, aber der Briefkopf bestätigte, dass es Ansgar Toftgaards Computer war. Warwick hatte gehofft, dass die Täter, obwohl sie bezahlt worden waren, der Verlockung nicht hatten widerstehen
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