Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
geschluckt hatte. Thor wusste, dass er das Eintreffen der Polizeistreifen abwarten sollte, ehe er das Gartenhaus aufsuchte, wo Anisa sich versteckte, damit die Kollegen rechtzeitig eingreifen konnten, wenn Gunnerus kam.
Doch dann begann er trotzdem, auf Ved Slusen entlang bis zu dem schmalen Kiesweg auf der linken Seite zu gehen, der zu den kleinen Schuppen am Bootssteg führte. Er konnte sich doch wenigstens davon überzeugen, dass Anisa sich noch immer in ihrem Versteck aufhielt. Plötzlich machte ihn die Aussicht nervös, was passieren würde, wenn sein Plan in die Hosen ging. Dann wäre nicht allein seine Ermittlung gescheitert. Oder – infolgedessen – seine Karriere.
Dann hätte er auch ein weiteres Leben auf dem Gewissen.
59
Mogadischu, Sahafi Hotel International, 18 . Januar 2011
Der nächtliche Himmel war schwarz, und die allumfassende Dunkelheit wurde nur von sporadischen Explosionen in einem fernen Stadtteil unterbrochen. Ansgar sog die kühle Luft ein und lehnte sich gegen das Balkongeländer, während er versuchte, die Glut der Zigarette mit der Hand abzuschirmen. Er brauchte das Rauchen, um für einen Moment von seinen Kollegen wegzukommen, aber das war noch lange kein Grund, die Zielscheibe zu spielen. Eigentlich hatte er am meisten Lust, die gesegnete Wodkaflasche zu leeren, die in seinem Kleiderschrank stand. Martin und Bente weigerten sich allerdings, sein Zimmer zu verlassen, das sie nun schon seit Stunden belagerten.
Infolgedessen wurde Ansgar jetzt doch von dem Kater heimgesucht, vor dem er seit einigen Tagen davonlief, ja im Grunde genommen schon seit einigen Jahren. Er war ein paar Mal im Bad gewesen und hatte sich übergeben, und das half ein wenig, aber er wurde weder die Trauer über Mikkel noch die bedrückende Angst der anderen los. Auf eine merkwürdige Art und Weise kamen ihm der Schmerz in seiner Brust und der bohrende Kopfschmerz passend vor, jetzt, wo alles kaputtging. Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und drückte sie dann auf dem Steinboden des Balkons aus. Noch immer konnte er nur schwer akzeptieren, dass es einen Zusammenhang zwischen einem Mord in einer Kopenhagener Badeanstalt und ihren Entdeckungen hier geben sollte.
»Alles okay mit dir? Willst du nicht langsam mal wieder reinkommen?«
Martin streckte ungeduldig den Kopf zur Tür heraus. Er achtete penibel darauf, dass seine Nase nicht mehr als unbedingt nötig in die gefährliche Nacht hinausragte.
»Gib mir noch zehn Minuten. Dann können wir über alles reden, was euch auf dem Herzen liegt. Ich brauche nur noch ein bisschen Luft, okay?«
»Natürlich, aber wirklich nur zehn Minuten. Wir sitzen nebenan und warten.«
»Danke, Martin. Ich schaffe das schon. Nur noch eine letzte Zigarette.«
Martin sah ihm ernst in die Augen, und plötzlich wurde Ansgar klar, dass sein Kollege fürchtete, er könnte vom Balkon im vierten Stock springen. Aber Martins Sorge galt im Grunde wohl eher der Angst davor, im Stich gelassen zu werden, als Ansgars Wohlbefinden. Er lächelte bitter: So schlecht kannte Martin ihn also. Ansgar hatte nicht eine Sekunde überlegt, allem ein Ende zu setzen. Dazu war er viel zu bequem und phantasielos. Wenn dieser Sturm abgeklungen war und er seine Kräfte wiedererlangte, würde er woanders hingehen. Er würde das Mitleid nutzen, das seine persönliche Tragödie höchstwahrscheinlich auslöste, und sich einen hübschen Einsatzort in einem friedlichen Land suchen, mit eigenem Bungalow und eigenem Koch, wo er sich von morgens bis abends sanft von seinen Gin Tonics einlullen lassen würde.
Natürlich würde er Mikkel vermissen. Oder – in Anbetracht ihres bisherigen Verhältnisses – das Bewusstsein vermissen, dass es ihn gab. Bis vor wenigen Jahren war Ullas Junge lediglich ein Teil seiner Vergangenheit gewesen, den er verdrängt und als etwas abgestempelt hatte, was ihn nichts mehr anging. Seiner zweiten Frau, die er einige Jahre nach Mikkels Geburt kennengelernt hatte, hatte er beispielsweise nie erzählt, dass er einen Sohn hatte. Nicht ehe der Sohn zwanzig Jahre später auf einmal aufgetaucht war und sich als cleverer und tatkräftiger junger Mann erwiesen hatte, auf den er nichts anderes als stolz sein konnte.
»Ja, ja, ich komme schon, verdammt noch mal!«
Jetzt machten sie da drinnen auch noch Radau. Was zum Teufel trieben sie eigentlich?
Doch niemand antwortete ihm. Ansgar rieb sich die Augen. Der Lärm hörte nicht auf. Wurde immer lauter. Was machten sie nur?
Er riss die
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