Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
war widerstrebend darauf eingegangen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, er war noch immer im Zweifel. Man brauchte kein Arzt zu sein, um zu erkennen, dass sie in erster Linie Ruhe brauchte. Aber er wusste auch, dass es ihr generell schwerfiel, mit ihren Gefühlen umzugehen. Am liebsten wollte sie alles von sich schieben und sich aus jeder Krise herausarbeiten, obwohl sie eigentlich wissen musste, dass man sich nicht in die Arbeit flüchten sollte.
Thor öffnete die Augen, stieg aus dem Auto und gesellte sich zu den anderen beiden, die auf der Stelle traten, um sich aufzuwärmen. Musoni hatte offenbar gerade etwas gesagt, verstummte jedoch bei Thors Anblick. Stattdessen streckte er ihm vorwurfsvoll seine Hände entgegen, doch Thor ignorierte ihn und seine Handschellen.
»Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen«, begann Thor. »Über den 7. April 1994 in Gikondo, südlich der ruandischen Hauptstadt. Man hatte eine Straßensperre aufgebaut, um die flüchtenden Tutsis aufzuhalten, doch das war anscheinend nicht genug. Denn plötzlich hallten Schüsse durch die Luft. Wie viele Opfer es gab, lässt sich unmöglich sagen. Aber mindestens fünfundzwanzig Menschen wurden brutal ermordet, als man direkt in die Menschenmenge feuerte. Einige wenige überlebten und konnten später berichten, wer die Täter waren. Und wer als Erster sein Gewehr genommen und eine Salve nach der anderen abgefeuert und die anderen Soldaten dazu aufgefordert hatte, dasselbe zu tun. Es war Leutnant Ignace Munyanezo. Derselbe Leutnant, der am 23 . und 24 . April jenes Jahres auf dem Kabuye Hill daran beteiligt war, Flüchtlinge mit Handgranaten zu bewerfen. Mindestens fünfzehntausend Tutsis wurden damals getötet. Was mag nur aus diesem Mann geworden sein?«
Endlich drehte er sich um und sah Musoni direkt an.
»Sollen wir Ihrem Gedächtnis ein bisschen auf die Sprünge helfen? Er kam doch tatsächlich als Flüchtling in das kleine Dänemark und zog 2010 nach Randers. Und zwei Jahre später finden wir ihn in Nørrebro wieder, als Leiter einer kleinen Gemeinde. Ist das nicht eine interessante Geschichte? Ich habe sie erst heute Morgen von einem meiner Kollegen gehört. Aber anscheinend ist das nicht mal ein Geheimnis, wenn man nur weiß, welche Fragen man stellen muss. Zum Beispiel: Weiß Anisa, dass ihr Seelsorger ein Massenmörder ist? Dass Sie einer von denen sind, vor denen sie rund um den Globus geflüchtet ist?«
Musoni sagte nichts.
»Ich bin beinahe neugierig zu erfahren, wie Sie sich vor diesem winzigen Detail gedrückt haben.«
»Ich kenne keinen Munyanezo«, sagte Musoni schließlich. »Ich habe noch nie ein Gewehr in der Hand gehabt. Ich weiß nicht mal, wie man die Dinger bedient. Unser Volk hat damals eine schreckliche Zeit durchlitten. Viele Wunden sind noch nicht verheilt. So etwas dauert lange, und es kursieren immer noch viele falsche Anschuldigungen. Aber Sie können Anisa ja selbst fragen, was sie über mich denkt. Und ich kann Ihnen garantieren: Sie wird Ihnen erzählen, dass ich derjenige bin, der ihr wieder ins Leben zurück geholfen hat. Ich war ihr ein Vater, ein Bruder, eine Familie, ein Arzt, ein Pfarrer. Ich war alles für sie. Das wäre ich doch wohl nicht, wenn an diesen Vorwürfen irgendetwas dran wäre?«
»Die Frage ist eher, womit Sie ihr noch geholfen haben.«
Wieder entschied sich Musoni zu schweigen.
»Sie können sich Ihre Erklärungen schenken, ob Sie es nun glauben oder nicht«, sagte Thor. »Wir wissen, dass Father Innocent Musoni eine Fiktion ist und dass Sie der Tyrann und Massenmörder Ignace Munyanezo sind. Ich hoffe sehr, dass es gelingen wird, Ihren Flüchtlingsstatus aufzuheben und Ihnen in Arusha den Prozess zu machen. Ich hoffe, dass Sie den Rest Ihres Lebens im Knast verbringen werden. Und ich würde Ihnen raten, mir die Wahrheit über Anisa Dini Farah zu erzählen. Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?
Musoni schüttelte den Kopf.
»Das ist vielleicht vierzehn Tage her, ungefähr.«
»Können Sie das auch beweisen?«
Musoni glotzte ihn an.
»Ich weiß genau, warum Sie nach ihr suchen«, sagte er dann. »Aber ich weiß nicht, wo sie sich versteckt. In den letzten zwei Wochen hatte ich keinen Kontakt mehr zu ihr. Sie weiß, wo ich wohne. Sie hat meine Handynummer. Und sie weiß, dass sie immer willkommen ist. Dass ich immer für sie da bin. Aber ich habe sie nicht gesehen.«
Er zögerte, jetzt zum ersten Mal mit der Andeutung seines gewohnten Lächelns.
»Haben Sie sich
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