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Bewegt Euch

Bewegt Euch

Titel: Bewegt Euch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hajo Schumacher
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gibt es viele Menschen, die gern kochen, aber keinen, der sich unnötig bewegt. Allein geht Horst eines Samstagsmorgens in ein Sportfachgeschäft. Hier wird sein Schicksal besiegelt. Eigentlich wollte Horst nur ein Paar Laufschuhe erwerben, um sich fortan gemächlich durch den Wald zu bewegen, zwei-, dreimal die Woche.
    Doch der junge, drahtige Verkäufer macht ihm Angst. Begriffe wie »Herz-Kreislauf«, »Pronation«, »Klima-Kontrolle«, »GA1« und »Schritt-Frequenz« fliegen zwischen den Kartons umher. Wie es denn um seine Aminosäure-Versorgung bestellt sei, will der Fachmann wissen. Horst ist erschüttert. Bis vor einer halben Stunde wollte er sich entspannt bewegen. Doch zwölf Test-Paare später ist Horst sicher: Bewegen ist Wissenschaft. Jeder Schritt muss pulsmäßig aufgezeichnet und in Excel-Tabellen abgespeichert werden, mit Höhenmetern und gekillten Kalorien dazu. Nur eine speziell auf seine Körpermaße angefertigte Sohle aus Raumfahrt-Kunststoff würde ihn tragen können. Und natürlich der Sensor, der die Körperinnentemperatur misst, der Versorgungsgürtel mit Getränken und Energieriegeln, die für eine Himalaya-Expedition entwickelt wurden, schließlich die sechs Lagen Hyperfunktions-Klamotte.
    Schon merkwürdig, dass eine Allerweltsbeschäftigung wie das Laufen so dermaßen durchindustrialisiert wird. Und der Radsport ist noch schlimmer. Warum nur haben Athleten vor dreißig, vierzig Jahren deutlich bessere Leistungen erbracht mit deutlich schlechterem Material? Weil die Ausrüstungsfrage eindeutig überbewertet wird. Natürlich läuft es sich in einem ordentlichen Sportschuh besser als in den Rumba-Slippern vom Duty Free. Andererseits brauchen die ersten Schritte nicht viel mehr als guten Willen und den Schutz der Abenddämmerung. Der Material-Terror der Fachgeschäfte hat gerade für Anfänger nur einen Effekt: Er schreckt ab. Alltagstreiben wird verkompliziert; für alles braucht man ein Diplom.
    Achtung, ich werde nostalgisch. Früher lief der Schweiß von April bis September und zog helle Bahnen auf die Haut. Die anderen Monate des Jahres lief die Nase. Anstrengung und Schmerz, Entspannung, Ruhe und Körperflüssigkeiten waren in den Alltag integriert, dafür sorgten Fahrrad, Kettcar, Brennnesseln und Wespen, und abendliches Lungern auf dem Verteilerkasten, bis Hart aber herzlich anfing. Bewegung brauchte weder Pläne noch Regeln, sie fand einfach statt, selbst bei denen, die gar nicht wollten. Eine Stunde auf der Leiter im Kirschbaum balancieren ersetzte ein Yoga- Seminar, eine Steige frisch geernteter Äpfel die Hanteln. Wellness erlebte meine Mutter, wenn sie mal ohne Einkaufstaschen Rad fahren konnte. Punktezählen bei jeder Mahlzeit? Undenkbar. Es wurde gegessen, was auf den Tisch kam, und davon so viel, wie der große Bruder zuließ.
    Wirklich dünn war damals keiner, richtig dick allerdings auch nicht. Plautze war das Privileg von Politik und Wirtschaft. Die Mageren fielen auf, der Segler Helmut Schmidt, zum Beispiel, oder der drahtige Unternehmer Philip Rosenthal, der ru derte. Interessante Frage: Würde man Willy Brandt oder Kurt Biedenkopf heute ein BMI- Problem anhängen? Die Frage hätte damals niemanden interessiert. Der Körper war egal, solange er funktionierte.
    Heute wäre all das verboten, was wir damals täglich taten, von Orthopäden, Psychologen, Ernährungsexperten oder broilerbraunen Spaßbremsen: Du läufst falsch! Du isst falsch! Du atmest falsch! Du schläfst falsch! Du machst nicht mal die Fehler richtig! Warum lässt sich die ganze Welt von selbst ernannten Gurus kommandieren? Wie konnte es so weit kommen, dass eine Selbstverständlichkeit wie Bewegung auf einmal Projektsteuerung braucht?
    Vielleicht, weil keiner mehr nachdenkt. Mein Fitness-Studio liegt im ersten Stock eines kleinen Einkaufszentrums. Zum Empfang windet sich eine Wendeltreppe empor, um einen Aufzug herum. Von den Laufbändern aus ist jeden Tag dasselbe Schauspiel zu beobachten: Einige Menschen steigen mit ihrer Sporttasche die Stufen hinauf, deutlich mehr Zeitgenossen allerdings warten unten auf den Lift, der noch einige Stockwerke mehr versorgt und daher seine Zeit braucht. Die Stufen sind schneller.
    Wie bei der Rolltreppe im Hauptbahnhof belegt auch der Aufzug zum Fitness-Studio ein irres Phänomen: In den Köpfen vieler Menschen scheint es ein normales Leben zu geben, das möglichst komfortabel, also bewegungsarm, organisiert ist. Da von klar abgetrennt sind Bewegungsphasen eingeplant,

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