Bewegt Euch

Gewissen entwickeln. Achim lag mal wieder gefesselt in der Ecke, während ich mich lust- und kraftlos über Waldwege schleppte. Hie und da ließ ich ein paar Kilometer aus, weil ich schlichtweg am Ende war. Das schlechte Gewissen wuchs. Überall zogen sich dicke rote Warnlinien durch mein Leben. Doch ich überschritt sie alle. Die anderen können das doch auch, dachte ich mal wieder. Profis absolvieren mehr als 200 Kilometer die Woche, dann werde ich wenigstens ein Drittel schaffen.
    Ich beschimpfte mich innerlich so laut, als wollte ich die warnenden Worte von Achim übertönen. »Lass mal gut sein«, wiederholte er stoisch. Doch für mich klang er wie die Schlange Ka aus dem Dschungelbuch . Er wollte mich verführen, zum Müßiggang.
    Glücklich die Menschen, die über die Physis eines kaukasischen Ochsen verfügen, gesegnet die Zeitgenossen, die lange Abendläufe locker wegstecken, um am nächsten Morgen zur nächsten Runde aufzubrechen. Ich kann das nicht. Meine Frau drehte nur noch die Augen zum Himmel, wenn ich wegen Kleinigkeiten mal wieder aus der Haut fuhr. »Hoffentlich ist dieser Unsinn bald vorbei«, sagte sie. Ich begriff solche Sätze als Ansporn. Ich wollte, ich musste, ich konnte länger, schneller, besser rennen und radeln. Mein Körper funkte verzweifelt SOS.
    Mein Saisonhöhepunkt sollte der BerlinMan werden, ein viel zu langer Triathlon. Danach wollte ich mich erholen. Leider die falsche Reihenfolge. Ich hätte mir vor dem Wettkampf Ruhe gönnen sollen. Mit deutlich sichtbarem Schlafdefizit ging ich an den Start. Beim Schwimmen spürte ich, wie unruhig mein Kreislauf arbeitete. Bedeutet nichts, redete ich mir ein. Das Ende kam acht Kilometer vor dem Ziel. Mein Körper verweigerte schlichtweg den Dienst. Mit brutalstmöglichen Krämpfen stand ich gebeugt am Rand der Strecke. Wir hatten fast 30 Grad, aber Schüttelfrost überzog mich, Welle für Welle. Natürlich bin ich nicht ins Ziel gekommen. Danach fühlte ich mich sechs Wochen lang wie ein Greis, kraft- und lustlos.
    Ich hätte aus dieser Niederlage einiges lernen können. Anhaltende Müdigkeit ist ein zuverlässiges Signal, so wie der Herpes, die Laune, die Lustlosigkeit. Aber wie es sich für einen Mann in der Blüte seiner Jahre gehört, wurde das nächste Jahr noch schlimmer. Es dauerte weitere zwölf Monate, bis zum verkorksten Marathon, bis ich endlich kapierte, dass ich meinen Tank nicht bis zum letzten Tropfen leerfahren sollte.
    Seither übe ich das Horchen. Ich will die Signale nicht noch einmal überhören. Ich darf Achim nicht niederbrüllen, wenn er mich warnt. Es ist kein Ausweis schwachen Charakters, sich zu zügeln. Es ist ein gutes Gefühl, nach Hause zu kommen und nicht völlig zerstört sein.
    All das habe ich Charlotte an jenem Donnerstagabend im Tiergarten erzählt. Sie hat geduldig zugehört und dann nur erwidert: »Aber Roth ist schon in fünf Wochen. Und der Trainer hat gesagt …« Alles erdenklich Gute, habe ich nur gedacht. Genau so war es bei mir auch losgegangen.

Von Pontius zu Pilates

    Sixpack in 4 Wochen.
    Klassiker auf Zeitschriften-Covern
    Ich war über Jahre ein perfektes Beispiel dafür, dass bei der Jagd nach dem totalen Bewegungsglück Vernunft nur selten zur Anwendung kommt. Häufig gewinnt der Schnäppchenjäger. Kaum las ich im Vorüberflitzen an einem Kiosk eine Schlagzeile wie »Doppelt so schnell in der halben Trainingszeit«, bremste ich abrupt. Ich musste diese Laufzeitschrift haben. Ich wollte diese Geschichte lesen. Natürlich wusste ich, dass es sich um eine Lüge handelt. Aber vielleicht war ja diesmal doch was dran.
    Wer sich eine Zeitlang bewusst herumbewegt, der kennt die Grenzen des Möglichen. Sixpack mit fünfzig ist ungefähr so realistisch wie ein Lottogewinn. Aber das spielen ja auch Millionen. Ob es sich um neue Wanderschuhe handelt, um Gummischläuche für die Waden, Kompressionswickel für den Bizeps oder die revolutionäre Amino-Kombination mit garantierter Erfolgsgarantie – keines dieser Produkte hält sein Versprechen. Würden die vielen neuen Kurse im Fitness-Studio schneller besser wirken, dann müsste man doch beim kollektiven Bindegewebe einen Fortschritt entdecken.
    Wir rennen von Pontius zu Pilates im festen Glauben, wir fänden eine Abkürzung zum Traumkörper. Ich habe Yoga versucht und Gewichtheben, Power-Stepping und Aqua-Gymnastik, Wackelplatte und Elektroschocks. Ich habe mich beim CrossFit geschunden, auf Milchprodukte verzichtet, Kohlehydrate gemieden und mich in