Bewegt Euch
auch bereit, über Weihnachten und Neujahr in eine psychosomatische Klinik zu gehen. Ich habe also nicht zwei Jahre auf eine stationäre Therapie gewartet, sondern nur zwei Monate. Sechseinhalb Wochen war ich dann Patient in einer Klinik am Chiemsee. Möglichst weit weg von allem, was bis dahin war.
Teil des Klinik-Programms war tägliche Bewegung. Gerade für uns Adipöse. Und ich habe richtig Spaß daran bekommen: Schwimmen, Walken, Hocker-Gymnastik, Volleyball, Badmin ton, Qigong.
Natürlich war ich sofort ehrgeizig. Hocker-Gymnastik fand ich eigentlich unter meiner Würde. Aber woanders wollte ich Vollgas geben. Also habe ich mich erkältet, weil ich zu lange geschwommen bin. Ich musste mir die Finger tapen, weil ich beim Volleyball keine Rücksicht auf mich genommen habe. Nach einigen Tagen war klar, dass ich vielleicht meine Grenzen ausloten müsste. Das habe ich getan. Es entpuppte sich als wichtiger Teil der Therapie. Sieben Jahre nach dem letzten Abend in Laufschuhen war das erste Mal Walken dann fast rauschartig.
Unangenehm war es allerdings auch. Stellen Sie sich vor, Sie wiegen 100 Kilo und tragen außerdem unter jedem Arm einen Zentner Zement. Sie sind kurzatmig. Sie schwitzen. Sie sind behindert. Und Sie vermeiden jede nicht notwendige körperliche Anstrengung. Leute wie ich nehmen sich deshalb selbst auf die Schippe, damit sie nicht angegriffen werden. Adipöse mit anderer Mentalität verstecken sich zu Hause. Und dann sitzen eines Tages in einer Klinik neben Ihnen drei 200-Kilo-Menschen, zwei Magersüchtige und einer mit Anpassungsstörung. Sie hören einem griechischstämmigen Arzt und Trainer zu, der Ihnen sagt, dass jede Bewegung zählt. Dann werfen Sie sich Tennisbälle zu zum Warmmachen. Und zehn Minuten später grinsen Sie mit den anderen um die Wette, weil Sie zu Poprhythmen Gummibänder dehnen. Und wenn der Bauch eine bestimmte Bewegung verhindert, improvisiert man eben. Perfektion ist unsexy – das war eine ganz neue Einstellung.
Und heute? Schwimmen, schnelles Spazierengehen und den Gassi-Gang mit unseren Hunden – das schaffe ich fast täglich. Qigong auch, ergänzt um Meditation. Denn auch bewusstes Langsam- beziehungsweise Nicht-Bewegen und Still-Sein gehören für mich dazu. Aufzüge meide ich, kurze Wege fahre ich mit dem Rad.
Manchmal nehme ich mir für eine bestimmte Zeitspanne etwas vor: soundso viel Kilometer Gehen, eine bestimmte Zahl Bahnen im Schwimmbad, eine neue Übung im Qigong. Wenn ich das Ziel erreicht habe, ist aber erst mal wieder Schluss damit. Denn damit mich kein schlechtes Gewissen lähmt, heißt meine Losung: weniger Ehrgeiz, mehr Konstanz. Meine Familie und mein Handy erinnern mich daran. Meine Familie aus Zuneigung – und mein Smartphone, weil es mir zweimal täglich Vorschläge für mehr Bewegung macht.
Ralf Bröker hat seine Klinikzeit in Fotos, Prosatexten und Haikus in einem kostenlosen E-Book mit dem Titel Seine Blätter festgehalten .
Auf die Ohren
Abb. l
Don’t stop me now!
Queen-Song, 1979
Eine der großen Glaubensfragen in Bewegungskreisen dreht sich um den Ohrstöpsel: Darf man im Fitness-Studio, beim Laufen oder Wandern Musik hören? Eine Frage, die an den deutschen Kern reicht. Wir haben gelernt: Zum Musikhören hat sich der Bildungsbürger gefälligst zu konzentrieren. Nebenbeibeschallen ist Fahrstuhlgedudel. Unsinn: Natürlich darf der Mensch sich zu Tönen bewegen, auch wenn die Auswirkungen bis heute nicht klar sind.
Fest steht, dass Musik Areale im Hirn anspricht, die Emotionen verarbeiten und Körperfunktionen regeln. Selbst Testpersonen, die regungslos im Scanner liegen, werden körperlich aktiviert.
Musik ist ein Befindlichkeitswandler. Auditive Reize wirken direkt. Selbst den albernsten Startliedern beim Volkswandern kann sich der Freizeitsportler kaum entziehen. Ob »Holzmichel« oder »Griechischer Wein« – wir wippen mit, oft gegen unseren Willen.
Musik erhöht die Kreativität; Kinder, die ein Instrument lernen, arbeiten konzentrierter. Läufer kennen den Effekt, dass sich Schritt- und Atemrhythmus der Musik unbewusst anpassen, wenn nicht gerade Zwölfton-Stücke gegeben werden. Laufexperte Frank Hofmann empfiehlt, beats per minute und Schritte pro Minute möglichst präzise abzustimmen. Zu schnelle Musik überfordert gerade den Anfänger. Profis, die sich auf den Körper konzentrieren wollen, lassen die Stöpsel weg.
Als bekennender Durchschnittsbeweger habe ich wunderbare Erfahrungen mit Musik gemacht. Am frühen
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