Bewegt Euch
all die Schleimspritzen verschwanden. Ich habe nie ein Buch von Hera Lind gelesen, aber ich habe sie mal für die Deutsche Welle interviewt. Auf meine Frage, wie sie denn mit den ganzen Rückschlägen fertig geworden sei, antwortete sie: »Ich bin laufen gegangen, manchmal morgens in aller Frühe, um fünf Uhr. Das hat mir sehr geholfen, das Gedankenkarussell zu stoppen, das da in meinem Kopf drehte und drehte und drehte. Manchmal gehe ich sogar heute noch zweimal am Tag laufen, weniger wegen der Fitness, sondern um meine innere Ruhe zu finden. Das funktioniert vorzüglich.«
Es wäre ein Trugschluss zu glauben, man könne Problemen davonlaufen. Im Gegenteil: Ich tauche oft noch tiefer ein. Doch mit Abstand zur Welt fällt es mir leichter, ehrlich an die Sache heran- und schließlich klarer herauszugehen. Wo genau lag der Fehler? Was war mein Anteil? Und wie kriegt man die Sache geregelt? Im Nichts klären sich die Dinge.
Perfektion ist unsexy
Die Fliege in der Flasche.
Welche Farbe hat ihr Himmel?
Ralf Bröker, Seine Blätter
Wer sich häufiger bewegt und sich halbwegs wohl in seinem Körper fühlt, der entwickelt bisweilen ein tückisches Mitleid mit Menschen, die anders sind. Freizeitsportler neigen zu unerträglicher Überheblichkeit.
Ich wäre gern frei davon, bin es aber leider nicht. Das bekam Ralf zu spüren, den ich auf einem Seminar traf. Er erzählte mir, dass er sich auch gern bewege, unter anderem mit Walkingstöcken. Ich rümpfte innerlich die Nase. Gerade mittelprächtige Athleten grenzen sich gern nach unten ab. Walker-Hohn, ich gestehe, gehört zu meinen Vorlieben.
Als Ralf mir seine Burn-out-Geschichte erzählte, wurde ich ziemlich still. Hier ist sie:
Ich habe auf eine Lebenskrise mit Arbeitswut reagiert. »Jetzt zeige ich es euch«, das war mein Motto. Und immer musste ich das bisher Erreichte noch einmal toppen. Zufrieden war ich nie. Außerdem war ich abhängig vom positiven Urteil anderer, ein echter Lobjunkie. 20 Überstunden in der Woche waren normal, 40 gab’s auch. Feierabend, Wochenende, Urlaub – ich war immer da für meinen Beruf, für meine Berufung. Auch für ehrenamtliche Arbeit. Und für alle, die etwas von mir wollten. Dass ich meine Seele und meinen Körper dafür völlig vernachlässigt hatte, wollte ich nicht sehen.
Dabei gab es jede Menge Warnsignale. Ein Beispiel: 2003 bin ich den Münster-Marathon gelaufen, aber 2010 habe ich fast 150 Kilo gewogen. Allergien, Asthma, Bluthochdruck, Schlafapnoe – die ganze Palette. Und dann gab es Zeichen, die ich gar nicht bemerkt habe. So fühlte ich mich selber hin und wieder gereizt. Im Nachhinein würde ich höflich sagen: Mein Selbstbild war weit entfernt von der Wirklichkeit.
Wenn Kinder dort ausrasten, wo sie am meisten Zuneigung und Sicherheit bekommen, ist das o.k. Eine Familie kann und muss das aushalten – gerade wenn aus den niedlichen Kleinen pubertierende Freaks werden. Wenn ich als Erwachsener aber zu Hause bei Kleinigkeiten die Kinder anschreie und überhaupt ständig Nitroglyzerin unter der Haut habe – dann läuft etwas falsch. Ich habe die Menschen leiden lassen, die mir Trost spenden wollten. Als ich das gemerkt habe, war ich entsetzt. Und zum ersten Mal als Erwachsener: traurig.
Eines Tages hatte ich nicht mehr nur am Arm, sondern auch auf dem Bauch Lipome. Die sollten untersucht werden. Ich lag schon fertig auf dem Tisch für die ambulante OP. Mein Doktor kam, zog die Handschuhe aus und meinte: »Du bist zu dick. Wer weiß, ob ich die Blutung hier gestillt bekomme.« Er hat mich dann an seine Kollegin verwiesen, die Ernährungsberatung macht. Darauf habe ich mich natürlich akribisch vorbereitet – und festgestellt, dass ich fast nie etwas esse. Aber wenn, dann richtig. Und richtig heißt: immer öfter mal über 10 000 Kalorien. Vor allem auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Weil ich auch gemerkt habe, dass ich mich dafür schäme und Chips- und McDonald’s-Tüten verstecke, war mir klar: Normal ist das nicht. So war es dann auch. Diagnose: Essstörung. Genauer: Binge Eating Disorder. Heißhungerattacken wie bei Bulimikern, aber ohne Erbrechen oder Extremsport. Ich hatte gerade eine Komikerin in Pink vor Augen, die das mal mit Alzheimer-Bulimie beschrieben hat, als die Ärztin meinte, das Ganze sei sehr wahrscheinlich nur das Symptom. Ursache sei meist eine handfeste Depression. Und bei mir: Erschöpfungsdepression. Auf Neudeutsch: Burn-out. Glücklicherweise bin ich privat zusatzversichert und war
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