Bewegt Euch
12. Juni 1987
»Zuerst gehen wir mal laufen«, befiehlt Dr. Matthias Marquardt. Ausreden gelten nicht. Der Orthopäde hält Sportklamotten in allen gängigen Größen in seiner Praxis bereit. Ein paar Straßen weiter liegt die Eilenriede, Hannovers prächtiger Grüngürtel.
Marquardt war früher ein starker Triathlet und ist immer noch gut in Form. Weil seine Knochen dem immensen Druck des Athletenlebens nicht standhielten, hat er eine besondere Sensibilität für Bewegungsabläufe aller Art entwickelt, nicht nur für Beckenschiefstände und Meniskusreste, sondern auch für die mentalen Vorgänge bei Profis und Freizeitsportlern. Seine Laufbibel ist Standardwerk, den Titel »Laufpapst« findet Marquardt angemessen.
Der Auslauf von der Praxis in den Park und zurück, gern gewürzt mit bösartigen Klimmzügen auf dem Trimm-Dich-Pfad, illustriert die Botschaft des Arztes: Bewegen ist kein Posten im Terminkalender. Bewegen ist alltäglich und selbstverständlich.
Deswegen kullern in Marquardts Praxis auch Medizin- und Sitzbälle umher. In der Ecke stehen Wackelstangen. »Jeder von uns kann locker eine Stunde guter Bewegung in seinen Tag integrieren, ohne es überhaupt zu merken«, sagt Marquardt. Und er hat recht. Wir neigen dazu, eine Alltäglichkeit aus unserem Alltag auszulagern.
Nur etwa jeder zehnte Mann und jede zwanzigste Frau bewegen sich mehr als vier Stunden pro Woche. 240 Minuten Sport? Das klingt viel. Halbwegs trainierte Zeitgenossen schaffen in dieser Zeit einen Marathon. Umgerechnet auf sieben Tage allerdings wird gerade mal eine gute halbe Stunde daraus. Der Steinzeitmensch hätte selbst an Gammeltagen mehr geschafft.
Da ich ein ziemlich undisziplinierter Esser und Trinker bin, setze ich meinen täglichen Bewegungsbedarf bei etwa einer Stunde an, will ich verhindern, dass überschüssige Kalorien sich dauerhaft ablagern. Macht sieben Stunden die Woche, gern auch im Alltag. Mit dem Rad durch die Stadt, das ist Pflicht. Mittags eine Runde Frisbee im Park ist manchmal drin. Und dann noch Marquardts Spielplatz-Strategie, also möglichst viele Geräte einfach im Büro verstreuen. Bei Neandertalers war dieser Lifestyle völlig normal. Bei uns ist Bewegen zum Projekt geworden, das viel zu viel Anlauf braucht. Diese Mauer muss weg.
Früher ging das Kind auf die Straße zum Spielen, die Familie in den Kleingarten zum Jäten, in den Wald zum Pilzesammeln, unternahm eine ausgedehnte Radtour in eine nette Ausflugswirtschaft. Heute sitzen Eltern bei einem Latte mocha grande vanilla und achten panisch darauf, dass sich die Kleinen im kostenpflichtigen Indoor-Spielplatz mit der abgerundeten, gepolsterten Ecke nicht ihr Hochbegabten-Köpfchen stoßen.
Die Trennung zwischen Bewegen und richtigem Leben ist eine rein theoretische. Rennen, Hetzen, Jagen, Siegen ist in unserem genetischen Code verankert, als blanke Überlebensfähigkeit. Nur die schnellsten, zähesten, motiviertesten Kämpfer waren erfolgreich.
»Unsere Vorfahren in der Savanne mussten 40 Kilometer am Tag laufen«, weiß der Evolutionsmediziner Detlev Ganten. Unser Körper ist seit Millionen Jahren auf ein Leben als Jäger und Sammler hin optimiert. Steinzeitmenschen hatten ein hartes kurzes Leben. Sie starben an Verletzungen und Infektionen. Die heute häufigsten Todesursachen, nämlich Herz-Kreislauf-Krankheiten, waren dagegen ebenso unbekannt wie Stoffwechselerkrankungen oder Fehlfunktionen des Immunsystems wie Allergien.
Der menschliche Körper hat sich im Laufe von Genera tionen langsam, aber optimal an die Lebensbedingungen der Frühzeit angepasst – aber nicht an die moderne Industrie gesellschaft, die es gerade erst seit zweihundert Jahren gibt. Effizienz war eines der wichtigsten Kriterien.
Der aufrechte Gang etwa wurde offenbar schon vor 3,6 Millionen Jahren erfunden. Das ergab ein biomechanisches Experiment an der University of Arizona in Tucson. Damals liefen drei Vormenschen der längst ausgestorbenen Gattung Australopithecus afarensis aufrecht über die feuchte Asche des Vulkans Sadiman, im Norden des heutigen Tansania. Die siebzig Fußab drücke trockneten aus, blieben bis heute erhalten und belegen, dass sich unsere Vorläufer mit zwei bis vier Stundenkilometern fortbewegten.
Bei den versteinerten Abdrücken waren Zehen- und Fersenabdrücke gleichmäßig ausgebildet – wie beim modernen Men schen. Der zweibeinige Gang ist eben sehr energieeffizient – und vor allem schnell. Der Anthropologe Peter McAllister hat anhand von
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