Bewegungswissenschaft
Übungsleiter oder Sporttherapeuten ein derart fassettenreiches Wissen über die Bewegungsmerkmale, die körperinternen Steuerungs- und Funktionsprozesse der Bewegungskontrolle, die motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die motorische Entwicklung oder die bewegungswissenschaftlichen Mess- und Diagnoseinstrumente? Antworten hierauf ergeben sich aus den ebenso vielfältigen beruflichen Anforderungen an einen kompetenten Sportpraktiker. Im Sport müssen Bewegungen beschrieben, analysiert und bewertet, Fähigkeiten und Fertigkeitenausgebildet, gemessen und diagnostiziert, Bewegungsanweisungen und Korrekturen gegeben und individuelle Eigenarten der motorischen Entwicklung berücksichtigt werden, um motorische Lern- und Übungsprozesse zielgerichtet beeinflussen zu können.
4 Wie unterscheiden sich die bewegungswissenschaftlichen Betrachtungsweisen?
Zur Bearbeitung der vielfältigen Problembereiche der menschlichen Bewegung und Motorik haben sich verschiedene, gleichberechtigt nebeneinander stehende, mehr oder weniger voneinander abgrenzbare bewegungswissenschaftliche Forschungs- und Lehrperspektiven, so genannte Bewegungslehren (G ÖHNER , 1979) oder Betrachtungsweisen etabliert (W ILLIMCZIK & R OTH , 1983; R OTH & W ILLIMCZIK , 1999). Ihren speziellen Erklärungsanspruch bestimmen das jeweilige Kenntnis- und Analyseinteresse und die Orientierung an naturwissenschaftlichen, psychologischen, behavioristischen, phänomenologischen oder ganzheitlichen Konzeptionen. Mittels spezieller Analyseverfahren werden sowohl Merkmale motorischer Handlungen charakterisiert, sportmotorische Probleme und Prinzipien untersucht als auch Aussagen über den informationsverarbeitenden Menschen und den Zusammenhang zwischen dem Bewegungsprodukt (motorische Fertigkeit) und dem Bewegungsprozess (Bewegungshandlung) getroffen.
Die folgenden Abschnitte erläutern den in der deutschsprachigen Sportwissenschaft weit verbreiteten Systematisierungsansatz von R OTH und W ILLIMCZIK (1999; W ILLIMCZIK & R OTH , 1983). Anschließend folgt eine kurze Zusammenschau der in Teilbereichen vergleichbaren Forschungs- und Lehrkonzeptionen von M EINEL und S CHNABEL (1998), G ÖHNER (1999) und L OOSCH (1999).
Forschungs- und Lehrkonzeption von Roth und Willimczik (1999)
R OTH und W ILLIMCZIK (1999) unterscheiden vier grundlegende bewegungswissenschaftliche Betrachtungsweisen ( vgl. Abb. 3 ), die einen jeweils eigenständigen Beitrag zur Beschreibung und Erklärung sporttypischer Bewegungsphänomene leisten. Die gewählte Forschungsperspektive hängt davon ab, auf welche Bewegungsmerkmale das Erkenntnisinteresse zielt. Richtet sich der Forschungsblick auf den Außenaspekt der Bewegung (Produktbereich), steht die Analyse abstrakter sporttypischer Technikformen, ablaufrelevanter Rahmenbedingungen oder zeitlich-räumlicher Veränderungen sportlicher Fertigkeiten im Vordergrund. Rückt der Innenaspekt der Bewegung (Prozessbereich) in den Fokus, stellt die Aufklärung des „Funktionierens“ der Bewegung das primäre Forschungsinteresse dar. Evaluiert werden die leistungsbestimmenden, bewegungsregulierenden Mechanismen und Funktionsprozesse des Zentralnervensystems und der Körperperipherie sowie die motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten.
Den maßgeblichen Beitrag zur Klärung der Erscheinungen, der Grundlagen und der Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Bewegung und Motorik liefern die fähigkeits- und funktionsbezogenen Denkansätze. Die empirisch-analytische fähigkeitsorientierte Betrachtungsweise richtet sich auf den Innenaspekt der Bewegung. Neben der Erforschung inter- und intraindividueller Leistungsdifferenzen umfasst dies sowohl die Abbildung des Niveaus spezieller Verlaufsformen körperinterner Regulationsprozesse über die fünf motorischen Basisfähigkeiten – Ausdauer-, Kraft-, Schnelligkeits-, Beweglichkeitsfähigkeiten und koordinative Fähigkeiten – und die motorischen Fertigkeiten als auch die Bestimmung der individuellen Fähigkeitsdispositionen ( vgl. Lektion 2 ).
Abb. 3: Betrachtungsweisen der Bewegungswissenschaft des Sports (mod. nach R OTH & W ILLIMCZIK , 1999, S. 13)
Funktionale Betrachtungsweisen sehen menschliche Bewegungen mit unterschiedlicher Fokussierung als zielgerichtete Handlungen an. Jede einzelne Bewegungsphase stellt eine zweckhafte, sinnbezogene Leistung zur Bewältigung vorgegebener Situations- oder Problemkonstellationen dar. Einen breiten Blickwinkel nehmen die auf den psychischen Innenaspekt und die
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