Bewegungswissenschaft
unterschiedlichen Freizeitaktivitäten, des Schulsports und des organisierten Sports vielfältige Bewegungserfahrungen. Demgegenüber ist die nachschulische Lebensphase – das Erwachsenenalter – durch die mit dem Alter und den konkurrierenden beruflichen oder familiären Anforderungen verbundenen, auffällig hohen Rückzugstendenzen vom Sport gekennzeichnet.
Theoretische Erörterungen und empirische Prüfungen des Einflusses der Bewegungsbiografie auf die motorische Entwicklung weisen insgesamt darauf hin, dass weitgehend das zählt, was eine Person motorisch gemacht hat und vor allem, was sie nicht gemacht hat. Im Rahmen einer längsschnittlichen Untersuchung analysiert W OLLNY (2002) die Unterschiede in den individuellen sportmotorischen Kapazitätsreserven von Tischtennisanfängerinnen (10-59 Jahre) bei der Aneignung und der Optimierung des Tischtennis-Rückhand-Schupfschlags in Abhängigkeit von vier breit variierenden, alterskorrelierten Einflussvariablen: kalendarisches Alter, Bewegungsbiografie, koordinatives und informationell determiniertes Fähigkeitsniveau. Die empirischen Resultate weisen darauf hin, dass die Bewegungsbiografie entscheidend die interindividuellen Differenzen in der intraindividuellen Plastizität der motorischen Aneignungs- und Optimierungsfähigkeit der untersuchten Probandinnen prägt. Demgegenüber bestehtfür das kalendarische Alter und die koordinativen informationellen Fähigkeitskomponenten – entgegen der üblichen sportwissenschaftlichen Lehrmeinung – augenscheinlich kein oder nur ein geringer differenzieller Erklärungswert für die interindividuellen Unterschiede im motorischen Lernen.
4.2 Welche evolutionär-historischen Faktoren beeinflussen die Ontogenese?
Den Einfluss evolutionär-historischer Faktoren auf die motorische Entwicklung bestimmen der Kulturkreis, die Volks- und die Gruppenzugehörigkeit, die Familie, die Schule und der Freundeskreis. Die sich im kulturhistorischen Wandlungsprozess etablierenden Werte und Handlungsmöglichkeiten stellen neben technischen und normativen Beschränkungen ein System unterschiedlicher, ontogenetisch wirksamer Restriktionen dar (Überblick: F LAMMER , 2003). Für das Kindesalter sind beispielsweise die markanten Veränderungen der räumlichen Lebensbedingungen, die schnell voranschreitende Medialisierung der kindlichen Erfahrungswelten, die Modifizierung des kindlichen Zeiterlebens und die Prozesse der Verjugendlichung der Kindheit bedeutsam.
Die zunehmende Differenzierung der Bewegungsumwelten, das veränderte Bewegungsinteresse, das umfangreiche Bewegungsangebot und der frühe Kontakt zum organisierten Sport beschreibt auffällige kulturhistorische Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Jugendstudien belegen, dass Heranwachsende an der differenzierten Ausweitung der Sportkultur partizipieren, und dass Sporttreiben für die Mehrzahl der Jugendlichen zu den Selbstverständlichkeiten des Lebens zählt (B RETTSCHNEIDER , B AUR &B RÄUTIGAM , 1989; B RETTSCHNEIDER & B RÄUTIGAM , 1990).
4.3 Was sind nichtnormative Lebensereignisse?
Die Lebensereignisforschung differenziert normative Lebensereignisse , die in einer Population mit großer, wenn auch individuell zeitlich verzögerter Wahrscheinlichkeit mit einem spezifischen Alter und in einer bestimmten Konstellation auftreten (z. B. Berufseintritt, Heirat, Pensionierung) von nichtnormativen Lebensereignissen , die keine erkennbaren Bindungen an den Lebenslauf zeigen. Letztere treten unerwartet auf und lassen sich nicht „einfach“ in die Lebensroutine eingliedern, sondern heben sich aus dem Alltag heraus und erlangen hierdurch eine besondere subjektive Bedeutung. Zu den nichtnormativen Lebensereignissen zählen unkalkulierbare, lebensbegleitende Übergangs-, Umstellungs- und Verhaltenssituationen (Unfälle, Krankheiten, Orts-/Wohnungswechsel, Geburt von Kindern, Zufälle mit biografischer Tragweite usw.).
Kritische Lebensereignisse stellen zeitliche Phasen des Ungleichgewichts der Person-Umwelt-Beziehung dar. Von zentraler Bedeutung sind nicht das Ereignis selbst und seine objektiven Folgen, sondern das Verhältnis zwischen den situativen Anforderungen und den individuellen Bewältigungsressourcen. Kritische Lebensereignisse können sehr verschiedenartige Reaktionen auslösen. Sie werden im Allgemeinen dadurch bestimmt, wie viele Menschen ein vergleichbares Ereignis trifft. Bei Naturkatastrophen (Erdbeben, Hurrikan, Tsunami usw.), Wirtschaftskrisen oder Kriegen, die auf eine
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