Bewegungswissenschaft
größere Personengruppe in nahezu gleicher Weise einwirken, scheint die psychologische Erfahrung des Einzelnen eine andere zu sein, als wenn nur einzelne Menschen betroffen werden (z. B. Blitzeinschlag; Überblick: F ILIPP , 1995).
Nichtnormative Ereignisse gelten als Wendepunkte im Leben. Sie führen zu einer Revision oder Reorganisation der Lebensperspektive, der alltäglichen Lebensführung, der bisherigen Verhaltensorientierungen, der sozialen Rolle oder zum Aufbau neuer Fähigkeiten, Wissensstrukturen oder sozialer Beziehungen. Die Veränderungen erachtet der Mensch dann als einen Gewinn, wenn die Lebenskrise eine Herausforderung und Chance darstellt. Maßgebliche Voraussetzungen für eine umfassende und schnelle Bewältigung kritischer Ereignisse sind Vorerfahrungen mit ähnlichen Vorkommnissen und Lösungsstrategien. Demgegenüber verursacht Nichtkompetenz vielfältige Störungen, gelegentlich auch massive Kontrollverluste. Nichtnormative Ereignisse können personen- und situationsabhängig zu Hilflosigkeit, Desorganisation, Selbstvernachlässigung oder Angstzuständen führen.
Frauen werden häufiger und mit anderen Formen kritischer Lebensereignisse (z. B. zwischenmenschliche Beziehungen) konfrontiert als Männer (Beruf, Rechtsverletzungen usw.). 20-30-jährige Erwachsene müssen doppelt so viele kritische Ereignisse bewältigen wie 60-Jährige (Überblick: F ILIPP , 1995). Sportspezifische Nachweise der Bedeutsamkeit kritischer Lebensereignisse für die motorische Entwicklung liegen in geringer Anzahl für den Bereich des Spitzensports vor (Überblick: B ETTE , S CHIMANK , W AHLIG & W EBER , 1999).
4.4 Welche Ursache-Konsequenz-Beziehungen bestehen zwischen Entwicklungsfaktoren?
Die direkten und indirekten Auswirkungen einzelner relevanter Faktoren auf die motorische Entwicklung diskutieren die Kapitel 4.1 bis 4.3 unabhängig von den komplexen Ursache-Konsequenz-Beziehungen zwischen den Faktoren. Dies entspricht der üblichen entwicklungspsychologischen Forschungsstrategie. Nachfolgend werden exemplarischmögliche Wirkungsbeziehungen – vornehmlich Kovariationen und Interaktionen – zwischen zwei Variablen thematisiert: genetische Determinanten und Umweltbedingungen sowie kritische Lebensereignisse und andere Entwicklungslinien des Lebenslaufs.
Genetische Determinanten und Umweltbedingungen
Zum Grundlagenwissen der Entwicklungspsychologie gehört es, dass dieselben Umweltkonstellationen bei verschiedenen Anlagebedingungen zu unterschiedlichen Entwicklungsergebnissen führen. Umgekehrt wirken sich dieselben genetischen Determinanten bei verschiedenen Umweltbedingungen in unterschiedlicher Weise auf die Ontogenese aus. Die Kenntnisse über den relativen Einfluss von Anlage- und Umweltfaktoren auf die menschliche Entwicklung stufen Verhaltensforscher als populations- und umweltabhängig ein. Individuenbezogene Aussagen lassen sich hieraus nicht ableiten. Belegen lässt sich allenfalls eine gewisse Umweltstabilität einzelner Merkmale.
Von großer Bedeutung für die Ontogenese scheinen Kovarianzen und Interaktionen von Anlage-Umwelt-Faktoren zu sein. Bei Anlage-Umwelt-Kovarianzen kann unter speziellen Umweltkonstellationen eine Konzentration spezifischer Genome (Chromosomensätze) beobachtet werden. In anregenden Umwelten treten im Allgemeinen vermehrt intelligenzfördernde Genome auf, da die Ausbildungssysteme moderner Gesellschaften dies unterstützen und intelligente Menschen derartige Umwelten verstärkt aufsuchen. Einzeln betrachtet, gelten Anlage- und Umweltfaktoren als notwendige, aber nicht als hinreichende Entwicklungsbedingungen. Die motorische Ungeschicklichkeit stellt weder das alleinige Resultat der ungünstigen Anlagebedingungen noch der ungünstigen Umweltkonstellationen dar.
Die motorische Ungeschicklichkeit resultiert vielmehr aus der Anlage-Umwelt-Interaktion, da die Auswirkungen des einen Merkmals von der Ausprägung des anderen Faktors abhängen. Interindividuelle Differenzen in der motorischen Lern- und Optimierungsfähigkeit werden in unterschiedlichem Maße durch die allgemeinen und sporttypischen Bewegungserfahrungen, das koordinative, informationelle Fähigkeitsniveau, die habituellen Persönlichkeitseigenschaften, die handlungswirksamen Motivationen oder die allgemein-motorische Anpassungs-, Kombinations- und Steuerungsfähigkeit hervorgerufen (vgl. S INGER , 1994; W INTER & B AUR , 1994; R ÖTHIG , 2003).
Kritische Lebensereignisse und andere Entwicklungslinien des
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