Bewegungswissenschaft
Charakteristisch ist die landkartenartige überproportionale Abbildung derjenigen Körperregionen, die über besonders fein ausgeprägte sensorische oder motorische Fähigkeiten verfügen oder anders ausgedrückt, wie viel der Oberfläche derGroßhirnrinde einem bestimmten Körperteil zukommt. Abbildung 20 verdeutlicht am motorischen Homunculus, dass die Muskelgruppen des Gesichts, der Zunge, der Finger oder der Daumen eine ausgesprochen feine kortikale Auflösung erfahren. Demgegenüber sind die Regionen der Rumpfmuskulatur nur sehr klein und wenig gegliedert.
Abb. 19: Strukturen des Zentralnervensystems des Menschen (mod. nach N ETTER , 1997, S. 100)
Am Entstehungsprozess des Handlungsantriebs willkürlicher Bewegungen, der Entscheidung über den Abruf eines Bewegungsplans und der Analyse der extero- und propriozeptiven Informationen, beteiligen sich die scharf abgegrenzten subkortikalen Motivationsareale und das Entscheidungszentrum (limbisches System, Frontalhirn; vgl. Abb. 21 ). Das Ergebnis dieses komplexen Informationsprozesses bildet die Grundlage für den Handlungsantrieb , also die Vorstellungen über das Bewegungsziel. Der Handlungsantrieb dient den Assoziationsfeldern des motorischen Kortex (Großhirnrinde, motorisches und prämotorisches Rindenfeld) zur Erstellung einer ersten groben Bewegungsvorstellung (Grobprogrammierung). Der wenig ausdifferenzierte Bewegungsplan wird für die zeitlich-räumliche Feinprogrammierung der motorischen Handlung an die Basalganglien und das Cerebellum übermittelt. Fallen die Assoziationsfelder des motorischen Kortex aus, entstehen Handlungsunfähigkeiten.
Die Basalganglien (Stammhirn), als eine
Ansammlung von fünf subkortikalen Nucli, stellen die Verbindung
zwischen den motorischen und sensorischen Arealen des Großhirns her. Sie empfangen kontinuierlich Informationen der Gleichgewichtsorgane, der Muskelspindeln, der Gelenkrezeptoren und der Hautrezeptoren. DieHauptaufgabe der Basalganglien besteht in der Koordination langsamer und automatisierter Bewegungen sowie in der Festlegung der Bewegungsrichtung, der Bewegungsamplitude, der Bewegungsgeschwindigkeit und der muskulären Kraft. Darüber hinaus beteiligen sich die Basalganglien an der Regulation des Muskeltonus und der Halte- und Stützmotorik. Die Schädigung der Basalganglien führt zu typischen motorischen Störungen wie der Bradykinese (Bewegungsverlangsamung), dem Tremor (unwillkürliche rhythmische Oszillationen), dem Rigor (erhöhte Muskelsteifigkeit) oder der Chorea (schnelle, abgehackte, unwillkürliche Bewegungen).
Abb. 20: Somatografische Kartierung des motorischen Homunculus der menschlichen Großhirnrinde (mod. nach S CHMIDT ET AL ., 2005, S. 149)
Das Kleinhirn (Cerebellum) wird parallel zu den Basalganglien in die Planung und die Durchführung der Bewegung einbezogen. Es erhält fortlaufend sensorische Informationen über die Stellung des Körpers im Raum und die Lage der einzelnen Körperextremitäten zueinander. Das Cerebellum übernimmt die zeitliche Strukturierung und die Überwachung schneller Bewegungen, die Feinkoordination langsamer Bewegungen, die Gleichgewichtsregulation und bei zielmotorischen Fertigkeiten die Kontrolle der stützmotorischen Bewegungsanteile. Der Ausfall des Kleinhirns führt zu einem taumelnden Gang (Dysarthrie), einem Unter- und Überschießen der motorischen Handlung (Dysmetrie) und bei schnellen Bewegungen zu einer unangemessenen Realisierung (Dysdiadochokinese).
Abb. 21: Blockdiagramm der spinalen und supraspinalen Zentren des Nervensystems mit ihren wichtigsten Verbindungen und Funktionen bei der Bewegungskontrolle (mod. nach T HEWS ET AL ., 1999, S. 626)
Differenzierte neuroanatomische Kenntnisse liegen über die Funktion der drei anatomischen Unterareale des Kleinhirns vor. Das Paläocerebellum empfängt über die schnellen Nervenbahnen (70-130 m/s) Informationen aus den Assoziationsarealen (Auswahl des Bewegungsplans) und der Körperperipherie (Gleichgewichtssinn, Tiefensensibilität usw.). Durch den Vergleich der reafferenten und efferenten Informationen überprüft das Paläocerebellum, inwieweit die Bewegungsausführung mit dem ausgewählten Bewegungsprogramm (Efferenzkopie) übereinstimmt.
Bei Abweichungen vom geplanten Bewegungsverlauf werden Korrektursignale an die motorischen Zentren gesendet (Hirnstamm, Hirnrinde usw.). Neben der Bewegungskontrolle übernimmt das Paläocerebellum die situationsbezogene Feinabstimmung der Körperhaltung und der
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