Bewegungswissenschaft
höhere Zentren des Zentralnervensystems aktiviert werden und eine feststehende aufgabenspezifische Muskelgruppierung autonom steuern. Die so genannten koordinativen Strukturen werden jeweils vor und während der Bewegungsausführung nach dem Baukastenprinzip aus fundamentalen Rohbausteinen zusammengefügt (Überblick: T URVEY , 1991). Der Konnektionismus (Kap. 3.3.2) untersucht die Bewegungsorganisation mithilfe künstlicher autonomer Neuronennetze, die keine zentralen kortikalen Kontrollinstanzen verlangen (Überblick: R OJAS , 1999). Die Modularitätshypothese von F ODOR (1983) favorisiert die lokale partiell-modulare Bewegungsregulation (Kap. 3.3.3; Überblick: R OTH & H OSSNER , 1999).
3.3.1 Wie erklären ökopsychologische Handlungstheorien die Bewegungskoordination?
Gemeinsamer Ausgangspunkt der im Detail voneinander abweichenden ökopsychologischen Handlungstheorien (action approaches) ist der Versuch, folgende drei Annahmen und Kenntnisse über die Motorik miteinander in Einklang zu bringen:
den Einfluss verschiedener Constraints (Zwänge) auf die Bewegungsorganisation,
die direkte basale Kopplung von visueller Wahrnehmung, Denken und Bewegung und
das Degrees of Freedom-Problem des menschlichen Bewegungsapparats.
Physiologische, psychische, biomechanische und situative Constraints scheinen maßgeblich die essenziellen Charakterzüge menschlicher Willkürbewegungen und die Grenzen der Bewegungsmöglichkeiten des Individuums zu bestimmen (T URVEY , 1977, 1991; G IBSON , 1979, 1982). In vielen Sportdisziplinen haben sich unter Berücksichtigung des jeweiligen Regelwerks, der organismischen Voraussetzungen der Athleten und der situativen Rahmenbedingungen bestimmte, von Experten immer wieder zur Lösung sportartspezifischer Aufgaben bevorzugte Bewegungsausführungen bewährt. Beispielsweise gestatten in der Sportart Squash die räumlichen Begrenzungen des Squashcourts keine ausgedehnten Aushol- und Ausschwungbewegungen, wie sie beim Tennisspieler beobachtet werden können.
Nach T URVEY (1977, 1991) und G IBSON (1979, 1982) besteht auf der basalen Ebene eine enge, wechselseitige Kopplung von visueller Wahrnehmung, Denken und Bewegung. Durch visuelle Wahrnehmungsprozesse können Informationen über die Angebote und Merkmale der Umwelt (z. B. optimale und kritische Punkte), die raum-zeitlichen Relationen zwischen Mensch und Umwelt (body-, action-scaled information), die Fremdbewegungen oder die Eigenschaften des eigenen Bewegungsverhaltens in weniger als 100 ms ohne bewusste Aufmerksamkeits- und Verarbeitungsprozesse aufgenommen und direkt für die Bewegungsplanung und -realisierung genutzt werden.
Beispielsweise kann der Mensch über den visuellen time to contact Parameter τ exakt die Zeit bestimmen, die ein sich dem Auge annähernder Gegenstand bis zum Auftreffen auf die Netzhaut benötigt. Die Zeitdauer wird unmittelbar anhand der Vergrößerung des Abbildes des beobachteten Gegenstandes auf der Netzhaut ermittelt (L EE , 1976). Weitere alltägliche und sporttypische Handlungsprobleme des sich bewegenden Menschen veranschaulicht Abbildung 43 anhand der Einschätzung der individuellen Beinlängen- und Stufenhöhenrelationen und der Körperproportionen.
Das Degrees of Freedom-Problem weist darauf hin, dass der menschliche Bewegungsapparat über eine weitaus größere Anzahl an Körpergelenken und Skelettmuskeln verfügt, als für die Lösung einer bestimmten Bewegungsaufgabe notwendig erscheint. Die Grundeinheit der Bewegungskontrolle stellt nach B ERNSTEIN (1967, 1988) der einzelne Muskel dar, der einen Freiheitsgrad aufweist (Kontraktion-Relaxation). Die Freiheitsgradeeines Körpergelenks lassen sich aus der Anzahl der an ein Gelenk angreifenden Muskeln berechnen. Bei isolierten Armbewegungen müssen insgesamt 26 Freiheitsgrade kontrolliert werden (10 Schultermuskeln, sechs Muskeln des Ellbogengelenks, vier Muskeln für die Drehung im Ellbogengelenk, sechs Muskeln des Handgelenks). Demnach müssten Bewegungsprogramme für jede isolierte Armbewegung 26 Muskelaktivitätskennwerte beinhalten. Berücksichtigt man darüber hinaus, dass während der Bewegungsausführung nicht der gesamte Skelettmuskel, sondern nur eine wechselnde Anzahl motorischer Einheiten aktiviert wird, müsste das motorische Programm ca. 2.600 Freiheitsgrade kontrollieren (vgl. T URVEY , F ITCH & T ULLER , 1982). Diese Zahl erhöht sich um ein Vielfaches, wenn die Armbewegung in ein komplexes Bewegungsgefüge eingebunden wird. S TELMACH und
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