Bewegungswissenschaft
D IGGELS (1982) ermitteln für das menschliche Motoriksystem 21 27 Kombinationsmöglichkeiten.
Abb. 43: Handlungsprobleme des sich bewegenden Menschen (mod. nach T URVEY & K UGLER , 1984, S. 375)
Die in der Bewegungswissenschaft des Sports häufig diskutierte Ecological Theory of Action with Reference to Vision von T URVEY (1977, 1991) verbindet in anschaulicher Weise die Annahmen und Kenntnisse über das Degrees of Freedom-Problem des Bewegungsapparats, die bewegungsbeeinflussenden Constraints und die direkte basale Kopplung von visueller Wahrnehmung, Denken und Bewegung miteinander.
Nach T URVEY basiert die Bewegungsregulation nicht auf zentralnervösen Gedächtnisrepräsentationen (top down), sondern höhere Hirnzentren aktivieren durch einzelne Impulse hierarchisch tiefer liegende, selbstorganisierte koordinative Strukturen (bottom up). Diese regulieren mit minimaler Intelligenz die enorme Anzahl der kinematischen Freiheitsgrade des Bewegungsapparats, indem sie eine feststehende, aufgabenspezifische Muskelgruppierung autonom steuern. Die Analogie der Handlungsweise eines Marionettenspielers, der die zahlreichen Freiheitsgrade seiner Marionette mit der geringeren Anzahl der Freiheitsgrade seiner Hand über eine entsprechende Kombination der funktionalen Verbindungen der Marionettenfäden koordiniert, stellt ein plausibles Erklärungsmodell für die generelle Funktionsweise koordinativer Strukturen dar.
T URVEY beschreibt koordinative Strukturen als abstrakte Formulierungen der essenziellen Kennwerte der motorischen Fertigkeit. Die Bewegungsinformationen scheinen als invariante qualitative topologische Kenngröße – räumlich-zeitliche Geometrie der Bewegung – vorzuliegen. Vergleichbar mit biochemischen Proteinen, die aus einer komplizierten, vielschichtigen, gitterartigen Verbindung einzelner chemischer Elemente entstehen und als funktionelle Einheiten viele biologische Prozesse regulieren, unterliegt die Bewegungskontrolle einer komplexen gitterförmigen, hierarchisch-sequenziellen Organisation. Einzelne koordinative Strukturen einer Ebene können untereinander und mit diversen koordinativen Strukturen höherer Ebenen gitterartig zu speziellen Bewegungsfertigkeiten zusammengesetzt werden.
Am Beispiel des Gehens illustriert T URVEY , wie die hierarchisch-sequenzielle Bewegungsorganisation das Degrees of Freedom-Problem des menschlichen Bewegungsapparats lösen helfen könnte. Für die Kontrolle einer bestimmten Fortbewegungsart reichen zwei Freiheitsgrade im Kommandosignal aus, das von einem höheren Zentrum des Zentralnervensystems an hierarchisch tiefer liegende autonome Systeme (z. B. koordinative Strukturen, Oszillatoren; vgl. Lektion 4 ) gesendet wird. Das erste Signal spezifiziert die Fortbewegungsrichtung (vorwärts oder rückwärts), das zweite Signal die aktuelle Durchschnittsgeschwindigkeit.
Die situative Anpassung (Tuning) der invarianten koordinativen Strukturen an die Umwelt, das Bewegungsziel und die internen Störgrößen erfolgt durch zwei Arten von Tuning-Parametern. Zielorientierte Target-Parameter (z. B. time to contact, direction to contact, distance to contact) rufen eine räumlich-zeitliche Anpassung an das Ziel oder das Objekt der Bewegung hervor. Manner-Parameter (z. B. torque to contact, impulse to contact, work to contact) definieren die Art und Weise der Bewegungsausführung (schnell – langsam, sprunghaft – allmählich, hart – sanft usw.). Die Kennwerte der Tuning-Parameter können auf Grund der angenommenen direkten basalen Kopplungvisueller Wahrnehmungs- und motorischer Handlungsprozesse mit einem minimalen Beitrag an zentraler Aufmerksamkeit unmittelbar aus der Umwelt entnommen werden.
Nach dem derzeitigen Forschungsstand stellen ökologische Handlungstheorien (action approaches) nur eine von mehreren, plausibel erscheinenden Modellvorstellungen über die motorischen Kontrollstrategien dar. Bis heute ist es den Handlungstheoretikern nicht gelungen, eindeutige empirische Nachweise ihrer Annahmen über die menschliche Bewegungsorganisation zu erbringen. In diesem Punkt befinden sich die action approaches in guter Nachbarschaft mit den in Kapitel 3.1 und 3.2 diskutierten Konzepten der Programmvorsteuerung mit kontinuierlicher Systemregelung oder der Programm- und Parametertrennung (mixed approaches).
3.3.2 Wie denkt der Konnektionismus über die motorische Kontrolle?
Die Kritik des Konnektionismus am Konzept der Programm- und Parametertrennung von S CHMIDT (1976, 1988)
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