Bewegungswissenschaft
die Bewegungswissenschaft des Sports. Für die frühe Lebensphase – das Säuglingsalter bis Vorschulkindalter – interessieren vor allem die Ausprägung der Allgemeinmotorik und die möglichen Ursachen der von zeitlichen „Normwerten“ abweichenden Entwicklungsverzögerungen elementarer Bewegungsfertigkeiten (Laufen, Werfen, Fangen usw.). Ab dem Schulkindalter stehen vermehrt die Aspekte des motorischen Lernens und der körperlichen Leistungssteigerung im Vordergrund, was mit dem besonderen Interesse an Fragen des Schulsports und des Nachwuchstrainings zusammenhängt. Evaluiert werden die geschlechtsspezifischen und interindividuellen Unterschiede, die intraindividuellen Variabilitäten, die entwicklungsgemäßen Belastungsformen, die spezifischen Geschlechtsdifferenzierungen und die potenziellen Entwicklungsfaktoren. Als bedeutsam für das Erwachsenenalter gelten Fragen des Erhalts der Alltags- und Arbeitsmotorik, der Gesundheit und der sportmotorischen Leistungen. Die wenigen Befunde für das Erwachsenenalter müssen insgesamt mit einer gewissen Vorsicht betrachtet werden, da aussagekräftige Theorien und detaillierte Entwicklungsstudien weit gehend fehlen ( vgl. Lektion 9 ).
Endogene Faktoren der motorischen Entwicklung (Personenfaktoren) bezeichnen die genetischen Dispositionen des Individuums, welche die physischen und psychischen Reifungs- und Wachstumsprozesse beeinflussen. Die ausgesprochen fassettenreichen exogenen Faktoren (Umweltfaktoren) resultieren aus den vorherrschenden sozialkulturellen und materialen Umweltbedingungen (familiäre Einflüsse, elterlicher Erziehungsstil, sporttypische Lern- und Trainingsinterventionen, Spielmöglichkeiten usw.). Aufgabenfaktoren umfassen neben dem Motorikanteil die besonderen Anforderungen an die Geschwindigkeit und die Präzision der Bewegungsausführung. Die allgemein zu beobachtenden individuellen Unterschiede in den Entwicklungsverläufen erwachsen aus den vielschichtigen Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Personen-, Umwelt- und Aufgabenfaktoren.
Vergleichbar zur morphologischen Entwicklung pflanzlicher und tierischer Organismen sehen einzelne Entwicklungsforscher zeitbegrenzte Lebensabschnitte der Kindheit und der Jugendzeit als besonders günstig für die Verbesserung der Motorik an. Zentraler Ausgangspunkt stellt die theoretische Annahme dar, dass ein genetisch fixiertes Programm spezielle Lebensphasen besonders sensibel für Umwelteinflüsse macht, und dass bestimmte Umweltanforderungen nachhaltig positive oder negative Wirkungen auf die Ontogenese ausüben. Entwicklungsphasen, in denen der Organismus eine besondere Sensibilität für sporttypische Trainingsinterventionen zeigt, bezeichnet die Verhaltenswissenschaft als sensible Phasen. In der motorischen Entwicklung sollen sensible Phasen dann beginnen, wenn eine bestimmte funktionale Reife dem Individuum neue Erfahrungsmöglichkeiten eröffnet. Fehlende oder nicht ausreichende Umweltreize können zu spezifischen Defiziten führen, welche die Ontogenese unter Umständen dauerhaft beeinträchtigen.
Neuere sportwissenschaftliche Veröffentlichungen
argumentieren verstärkt gegen die Annahme bestimmter feststehender
Entwicklungsphasen. Favorisiert wird die Aufgabe stringenter Altersnormierungen und stattdessen die stärkere Berücksichtigung lern- und leistungsrelevanter Bedingungsfaktoren (B AUR , 1987a, b, 1994; F ETZ , 1989; J OCH , H ASENBERG & A UERBACH , 1990; W INTER & R OTH , 1994; W ILLIMCZIK , M EIERAREND , P OLLMANN & R ECKEWEG , 1999). Bündelt man die Befundlage zum Phänomen der sensiblen Phasen, liegen für die motorischen Basisfähigkeiten und die sportmotorischen Fertigkeiten nur wenige empirische Befunde vor, die für die Existenz sensibler Phasen sprechen. Des Weiteren können Entwicklungsstudien nicht belegen, dass spezifische Erfahrungen in einem eng umgrenzten Lebensabschnitt gemacht werden müssen, damit die motorische Entwicklung des Individuums regelhaft verläuft.
Den Kenntnisstand zur Existenz sensibler Phasen und die direkten Auswirkungen auf die Sportpraxis fasst B AUR (1987b, S. 14) folgendermaßen zusammen. „Solange sensible Phasen in der motorischen Entwicklung nicht mit einiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden können – und derzeit liegen dafür noch keine Anhaltspunkte vor –, solange brauchen sie selbstverständlich auch nicht für einen systematischen Aufbau von Trainingsprozessen berücksichtigt zu werden.“ Für W ILLIMCZIK ET AL . (1999, S.
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