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Beweislast

Beweislast

Titel: Beweislast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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bekämpfen konnte, diese dann aber jedes Mal mit neuer Wucht zurückkehrten.
    Doch er fühlte sich von Woche zu Woche energieloser, schlapper, nervöser. Einmal bereits hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich an eine psychologische Beratungsstelle zu wenden. Dazu jedoch fehlte ihm der Mut, weil man ihn, den weithin bekannten Bauingenieur, sofort erkennen würde. Und das wäre ihm peinlich gewesen. Außerdem müsste er dort wohl sein ganzes Leben, seine Probleme, sozusagen sein Innerstes preisgeben, was ihm nicht gelingen würde.
    Nein, er musste da allein durch. Auch wenn es täglich neuen Ärger gab. Wieder kam ihm der Besuch bei diesem jungen Manager heute Nachmittag in den Sinn. Augenblicke später tauchten vor seinem geistigen Auge die Geschehnisse vom Steinberghof auf. So sehr er sich auch bemühte, so einen Tag wie diesen aus seinen Gedanken zu bannen, es gelang ihm nicht. Er sah das Gesicht dieses selbstgefälligen Sachbearbeiters vom Arbeitsamt. Dann schloss er die Augen, aber das nützte auch nichts. Die Bilder ließen sich nicht wegwischen. Sie hatten sich tief in seine Seele eingebrannt. So saß er da, als habe ihn das monotone Gebläse des Computers in eine Art Trance versetzt.
    Er wusste nicht, wie lange er die Augen geschlossen hatte. In diesem Zustand zwischen Wachsein und träumen verschwammen die Erlebnisse der vergangenen Tage wie ein Gemälde verlaufender Wasserfarben mit den tausend Wünschen und Hoffnungen für die Zukunft. Als er die Augen wieder öffnete, fiel sein Blick auf die Fachbücher zu Statik und Architektur. Ob er sie jemals wieder brauchen würde? Das große, gerahmte Farbfoto vom Bau einer riesigen Autobahnbrücke weckte Wehmut. Wie waren sie damals stolz gewesen, diesen Auftrag an Land gezogen zu haben! Und der Chef hatte ihn als mustergültigen Mitarbeiter hervorgehoben, der die Bauleitung bei diesem komplizierten Projekt bestens bewältigt habe.
    Aus. Vorbei. Nichts davon zählte mehr. Sie wollten junge, billige Kräfte.
    Ketschmar spürte wieder Zorn und Hass aufsteigen. Wo waren die anderen Leidensgenossen? Die vielen hunderttausend Arbeitslosen, die bereit wären, wieder einzusteigen, wenn man ihnen nur eine Chance geben würde? Saßen sie alle daheim und haderten mit ihrem Schicksal? Warum, so überlegte er sich immer häufiger, warum gab es niemanden, der etwas organisierte? Gemeinsam wären sie eine unüberhörbare Macht – gegen Wirtschaft und Politik. Sollte er sich in seinem Alter nochmal politisch engagieren?
    Doch dann hämmerte es wieder in seinem Kopf: Das kostet Geld. Schau nach dir, lass dir nicht nehmen, was du mühsam erspart und aufgebaut hast. Sie wollen dich in die Armut treiben. Das ist gewollt.
    Sein Puls raste. Früher hatte er nie auf seinen Körper gehört. Er hatte von früh bis spät gearbeitet. Da war keine Zeit, krank zu sein. Doch seit er nur noch rumsaß, achtete er auf die Signale seines Körpers. Hier ein Zwicken, da ein Stechen. Der Blutdruck zu hoch, Herzrasen, Schwindelgefühle, Augenflimmern. Nie zuvor hatte er geglaubt, dass sich seelischer Kummer derart auf Organe und körperliches Wohlbefinden auswirken würde.
     
    Nein, so richtig christlich war er nie gewesen. Das hatte ihm der katholische Pfarrer vergällt. Viermal die Woche war er in die Kirche genötigt worden. Dienstags und donnerstags frühmorgens in den Schülergottesdienst, 7.15 Uhr bei Wind und Wetter, bei Schnee und eisiger Kälte. Die Kirche nicht beheizt. Dann sonntagvormittags, 8.45 Uhr. Die eineinhalb Stunden, die die Messe gedauert hatte, kamen ihm wie fünf Stunden vor. Mindestens. Und die Predigt, deren Inhalt er meist nicht verstand, war genauso lang. Meist war er ›ausgestiegen‹, ließ seine Gedanken um die Fernsehshow vom Vorabend kreisen. Peter Frankenfeld oder Lou van Burg hießen die Showmaster, die ihn weitaus mehr faszinierten als das Evangelium nach Lukas oder Johannes. Sonntagabends nochmals Kirche. Andacht. Der Pfarrer führte im Religionsunterricht eine Liste und fragte nach, wer welche der vorgeschriebenen Kirchenbesuche absolviert hatte. Je nachdem, wie oft man verneinen musste, setzte es schmerzhafte Strafen: Haare ziehen für das Fehlen bei der sonntäglichen Abendandacht, zusätzlich mindestens einen Schlag ins Genick für das Schwänzen der Heiligen Messe am Vormittag. Von den wirklich wichtigen Werten der Kirche hatte er eher weniger mitbekommen. Nie hatte er die Erzählungen seiner Mutter vergessen, die unter dem Druck dieses Pfarrers ihren

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