Beweislast
evangelischen Glauben aufgegeben hatte und mit riesigem Aufwand der katholischen Kirche beigetreten war – nur, weil eine Mischehe damals als verwerflich galt.
Als er beim Abfragen der Gottesdienstbesuche einmal ehrlicherweise einräumen musste, dass er nicht am Sonntagsgottesdienst habe teilnehmen können, weil er droben auf der Alb, in Lonsee, bei der Konfirmation seines Cousins gewesen sei, der aus der evangelischen Verwandtschaft der Mutter stamme, geriet der Herr Pfarrer geradezu außer sich vor Empörung. Er zog ihn an den kurzen Haaren des Hinterkopfes und warf ihm vor, den Sonntagvormittag in dieser Lügenkirche verbracht zu haben. Als er dies daheim seiner Mutter erzählte, tat sie etwas, das in dieser Zeit ziemlich mutig war: Sie beschwerte sich bei einem Mitglied des Kirchengemeinderats. So groß musste ihr Zorn über das Verhalten des Pfarrers gewesen sein. Der hatte sich später dann bei ihr entschuldigt.
Warum ihm dies alles gerade jetzt einfiel? Im Grunde seines Herzens wollte er an etwas glauben. An eine große Macht, an etwas, das die Naturgesetze so wunderbar hervorgebracht hatte. Oft hatte er bei komplizierten Berechnungen gestaunt, wie doch alles in mathematische Formeln zu zwängen war. Heute neigte man dazu, Mathematik als den Beweis für die Erklärbarkeit der Welt darzustellen. Dabei ist Mathematik doch nur der Versuch des Menschen, das Universum in Zahlen zu pressen.
Ketschmar, der eigentlich ein schlechter Schüler gewesen war, hatte sich erst viel später mit diesen Dingen befasst. Dass diese Welt aus dem Nichts und durch eine Kette von Zufälligkeiten entstanden sein soll, wie es die Evolutionstheorie behauptet, vermochte er nicht nachzuvollziehen. Obwohl seine Berufswelt aus knallharten Fakten und Berechnungen bestanden hatte, gab es für ihn stets noch eine andere Seite
– die eines Schöpfers. Ob man diesen Gott nennen wollte, blieb dahingestellt. Die Vorstellung, dabei handle es sich um einen alten weisen Mann, der irgendwo im Himmel thronte, entsprach nicht seinem religiösen Denken. Solche Schilderungen waren Bilder, Bilder, wie sie den Menschen vor 2000 Jahren eben geläufig waren. Längst wäre es an der Zeit, diese Bilder zu übersetzen – in eine Bibel für die heutige Vorstellungswelt.
Wie kam er auf solche Gedanken?
Vielleicht, weil er einen Halt suchte. Einen Halt, den ihm niemand geben konnte. Keine Beratungsstelle und auch nicht dieses dusslige Jobcenter, wie sie neuerdings die Vermittlungsstelle beim Arbeitsamt nannten.
Wenn ihm noch jemand Halt gab, dann Monika. Hoffentlich.
6
Er hatte geschwitzt und schlecht geträumt. Von Unfällen, Blechschäden und Toten. Überm rechten Auge spürte er einen Schmerz. Wahrscheinlich würde sich die Migräne wieder bemerkbar machen. Während Monika noch schlief, war er aufgestanden, hatte die Zeitung aus dem Briefkasten geholt und sich den Jogginganzug übergezogen. Beim Blick aus dem Fenster war tristes Novembergrau zu sehen. Der Nebel hüllte die gegenüberliegenden Hänge ein. Ketschmar setzte sich in den großen Ledersessel im Wohnzimmer und blätterte die Tageszeitung durch. Wie immer samstags suchte er die Stellenangebote, doch schienen es auch diesmal nur wenige zu sein. Bereits beim flüchtigen Drüberwegsehen erkannte er, dass nirgendwo das Wort ›Bauingenieur‹ stand. Stattdessen waren ›Controller‹ gefragt, was immer sich dahinter verbergen mochte. Oder Außendienstmitarbeiter. Oft auch Mitarbeiter ›zur Verstärkung unseres jungen Teams‹. Was auch sonst?, dachte er und blätterte weiter.
Er legte den politischen Teil beiseite, weil er den ewigen Zoff um Pöstchen, Macht und Parteien leid war. Welcher Politiker interessierte sich denn wirklich für die Menschen? Diese machtbesessenen Emporkömmlinge in Berlin hatten doch nur ihre eigene Karriere im Sinn. Für sie war die Regierung nichts anderes als eine große Aktiengesellschaft, in der jeder sein eigenes Monopoly spielte, um möglichst rasch ein Hotel in der Parkallee bauen zu können. Im übertragenen Sinne: Um möglichst rasch so viel Geld gescheffelt zu haben, um sich an den Luganer See zurückziehen zu können. Südhang versteht sich.
Im Lokalteil der Zeitung gings um den Kopftuchstreit einer moslemischen Kindergärtnerin. Ihr war von der Gemeindeverwaltung gekündigt worden, weil sie sich geweigert hatte, während der Dienstzeit dieses religiöse Symbol abzunehmen. Jetzt befassten sich Juristen damit. Unglaublich. Prozessieren um jeden
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