Beweislast
ihm im Religionsunterricht einst dargestellt wurde. Er betete zu der großen Macht und Kraft, die hinter allem stand, die Ordnung schuf und die diese wunderbare Natur hervorgebracht hat. Wenn es auch nur den Bruchteil dessen gab, was ihm der Pfarrer damals im Religionsunterricht beizubringen versuchte, dann musste diese Kraft ihm jetzt helfen. Nein, er wollte nicht an ihr zweifeln, denn vielleicht, so hatte der Pfarrer immer Gottes unerklärliche Ziele plausibel gemacht, vielleicht war er im universellen Gefüge für etwas ganz anderes vorgesehen. Etwas, das ihm diese Gefängnisstrafe nicht ersparen durfte. Aber warum sollte dann die Familie darunter leiden – Chrissi, Monika? Ketschmar bemerkte, dass er gar nicht beten konnte. Er ging schon jetzt durch die Hölle, durch ein Wechselbad aus Hoffen, Bangen und Resignation. Aber wenn eine Macht und Kraft Einfluss nehmen konnte, dann jetzt, in dieser Stunde, auf die Schöffen und Richter, auf ihr Denken und ihre Entscheidung. Er musste sich darauf konzentrieren. Die große Macht bitten, für Gerechtigkeit zu sorgen.
Natürlich hatte er bisher nicht so gelebt, wie der Herr Pfarrer damals es gewollt hatte. Er war nur selten in die Kirche gegangen. Nur sporadisch an besonderen Tagen: Weihnachten, Ostern, Familienfeste oder Beerdigungen. Und im Urlaub hatten sie Kirchen besichtigt, überall auf der Welt, waren andächtig zum Altar geschritten. Im Alltagsstress war kein Platz geblieben für Glaube und Gott und Besinnung. Nicht dass er dies gänzlich aus seinem Leben gestrichen hätte. Er war schließlich zutiefst davon überzeugt, dass das Universum und das Leben nicht durch einen Zufall entstanden sind. All den Sermon, den die Kirchen um den Glauben machten, das entsprach nicht seinem materialistisch geprägten Weltbild. Doch wenn es eine große Macht gab, die alles hervorgebracht hatte, dann musste es jenseits der greifbaren Realität noch mehr geben. Er spürte, wie plötzlich sein Puls zu rasen begann. Er versprach der großen Macht, sich ihr zuzuwenden, falls er diese Hölle verlassen durfte. Ja, das versprach er ganz fest.
Irgendwann schlief er ein – um in den folgenden Stunden viele Male aufzuschrecken.
Wie in Trance war Ketschmar den Wachtmeistern gefolgt. Er hatte Kopfweh und fühlte sich elend. Diese eine halbe Stunde musste er durchhalten. Länger würde es kaum dauern.
Der Gerichtssaal war gut besetzt, als er zu seinem Platz neben Manuel geführt wurde. Der begrüßte ihn mit ebenso kalten Händen, wie Ketschmar selbst sie hatte, und machte einen optimistischen Eindruck. Aber das hatte er beim Studium gelernt, dachte sein Schwiegervater, ohne etwas zu sagen. Zeit dazu blieb auch nicht. Denn sämtliche Prozessbeteiligte waren bereits anwesend, sodass die Protokollführerin an die Tür zum Beratungszimmer klopfte, sie einen Spalt weit öffnete und wohl signalisierte, dass man beginnen könne. Die Atmosphäre im Saal war spannungsgeladen. Ketschmar starrte zu den saalhohen Vorhängen hinüber, die den Blick durch die Fensterfront nur gedämpft freigaben. Draußen schien wohl die Sonne. Draußen – das war die Freiheit. Dann die Tür. Das Klicken. Die Schöffin als Erste. Aufstehen. Der Angeklagte spürte, wie seine Knie zitterten. Jetzt – noch ein paar Sekunden. Stehen bleiben zum Urteil. Die Richter, die der Sitzordnung entsprechend hereinkamen, gingen zu ihren Plätzen.
Jetzt würde es geschehen. Jetzt. Im Namen des Volkes. Ketschmar atmete schwer. Er sah auf Muckenhans, der den Polsterstuhl nach hinten zog. »Die Sitzung der Schwurgerichtskammer wird fortgesetzt«, erklärte er. Irritation. Es sah danach aus, als würden die drei Richter und die beiden Schöffen sich setzen wollen. Was hatte das zu bedeuten? »Wir treten noch einmal in die Beweisaufnahme ein«, erklärte der Vorsitzende, »bitte Platz zu nehmen.« Ein Raunen ging durch den Zuschauerraum.
Ketschmar sah zitternd und Hilfe suchend zu Manuel, der ihm beruhigend und lächelnd über den linken Arm fuhr.
Nachdem sich alle Personen wieder gesetzt hatten, klärte Muckenhans auf: »Die Kammer hat heute früh von einigen Ereignissen Kenntnis erlangt, die es zwingend notwendig erscheinen lassen, einen Zeugen zu hören.«
Manuel beugte sich zu Ketschmar, um ihn zu beruhigen: »Wart es ab – jetzt läuft alles anders.«
Der Zeuge war Kriminalhauptkommissar August Häberle, der einen übernächtigten Eindruck machte. Um den Formalitäten gerecht zu werden, bestätigte er, dass sich an
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