Beweislast
den Mannschaftstransportwagen gestiegen waren, ihre Einsatzkleidung trugen.
»Uns liegen nur über zwei Personen Erkenntnisse vor. Doch will ich nicht ausschließen, dass weitere Personen in Erscheinung treten könnten. Wir müssen also auf alles gefasst sein.«
»Okay«, bestätigte der Beamte, »wir rücken aber gemeinsam an – mit dem gesamten Gerät?«
»Ja, so hab ich mir das vorgestellt. Ich geh mal davon aus, dass die Aktion in einer Stunde abgeschlossen ist.«
»Und dann?«, fragte der andere Beamte.
»Dann gibt es zwei Möglichkeiten«, meinte Häberle ernst, »entweder wars eine ›Aktion Wasserschlag‹ oder wir haben Schicksal gespielt.« Die beiden Kollegen verstanden nicht so recht, was gemeint war. Aber das ging sie auch nichts an.
69
Monika und Chrissi hatten auf Manuel gewartet. Dass sich der letzte Verhandlungstag so lange hinziehen würde, war nicht vorherzusehen gewesen. Manuel machte einen abgekämpften und gereizten Eindruck. Nachdem er sich und den beiden Frauen einen Cognac eingegossen hatte, setzten sie sich ins Wohnzimmer und er versuchte, den Ablauf des Tages zu schildern. Es sei nichts Beunruhigendes, wenn der Staatsanwalt auf schuldig und lebenslänglich plädiert habe, versicherte er. Das sei schließlich dessen Aufgabe. »Ich bin davon überzeugt, dass den Richtern meine Argumente zu denken geben«, sagte Manuel und war selbst über diese zurückhaltende Formulierung erschrocken.
»Was heißt das?«, fuhr ihn Chrissi sofort an. »Willst du damit sagen, dass du Zweifel hast, dass du sie nicht absolut überzeugen konntest?«
»Ich hab alles getan, was in meiner Macht steht, glaub mir. Alle Schwachpunkte der Anklage sind aufgelistet, genau so, wie wir es hier besprochen haben – aber die Entscheidung liegt bei den Richtern.« Was hätte er auch sonst sagen sollen? Tausend Mal hatten sie darüber gesprochen. Abende lang, Nächte lang. Und nun würden sie wieder dasitzen, wie so oft, alle Möglichkeiten durchspielen, jede Chance, jedes Gegenargument, mal diskutieren, dann wieder betroffen und machtlos schweigen. Manuel hatte stets ein schlechtes Gewissen, wenn er sich zwangsläufig in sein Büro zurückziehen musste, um andere Fälle vorzubereiten. Auch er tat sich zunehmend schwer damit, parallel zu diesem Verfahren noch weitere Prozesse zu führen.
»Und dieser Kommissar«, begann Monika und schnäuzte sich, »du hast doch gestern gesagt, dass du mit ihm in Kontakt bist. Hat er sich gemeldet?«
»Er hat auf meine Mailbox gesprochen. Sobald es was Neues gibt, ruft er an. Sie wollen noch heute Abend etwas erreichen.« Chrissi wurde ungeduldig: »Was heißt das? Wie lange wollen die denn noch rumdoktern? Vati wird morgen verurteilt. Morgen früh um neun. Wenn die bis dahin nichts zuwege bringen …« Sie weinte und drückte sich ein Papiertaschentuch auf die Augen. »Was können wir denn bloß tun?«
Die drei Menschen schwiegen sich an. Monikas Körper wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. »Nur beten«, flüsterte sie, »nur beten.«
Ketschmar reagierte nicht mehr auf die Anpöbeleien seiner Zellengenossen. Noch dreizehn Stunden. Dreizehn Stunden quälende Ungewissheit. Warum, verdammt nochmal, gerade dreizehn? Ein schlechtes Omen? Vermutlich saßen die Richter jetzt noch zusammen, denn morgen früh vor neun würden sie wohl kaum beraten. Jetzt wurde über sein Schicksal bestimmt. Lebenslänglich, hämmerte es in seinem Kopf. Der Staatsanwalt hatte so getan, als sei alles klar. Als gäbe es all die Zweifel nicht, die Manuel aufgelistet hatte – und die doch jedem Zuhörer während des Prozesses klar werden mussten.
Die beiden Mitgefangenen alberten auf ihren oberen Liegen herum, wollten Ketschmar zu einer Bemerkung provozieren, doch er blieb reglos liegen. Sollten sie doch reden, was sie wollten. Er versuchte, sich in die Schöffen und Richter hineinzudenken, wie sie argumentieren würden. Doch er spürte, wie sich sein Gehirn auf die Seite des Staatsanwalts schlug, als wolle es ihn auf das Schlimmste vorbereiten. Manuel hatte doch früher, als sie Abende lang voll Spannung seinen Schilderungen gefolgt waren, selbst gesagt, dass in großen Prozessen ein Freispruch eher die Ausnahme sei. Und das hier war doch ein großer Prozess. Ketschmar hatte sich allerdings geweigert, die Zeitungsberichte darüber zu lesen.
Er begann zu beten. Ja, er betete. Das hatte er so ausgiebig schon lange nicht mehr getan. Und er betete nicht zu dem alten Herrn mit dem Rauschebart, wie er
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