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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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der Welt hatte, um sich mit ihr zu unterhalten.
    Man wusste nie, woran man bei ihm war.
    Kurz nach seinem Einzug hatte sie ihm alle Zimmer gezeigt.
    »Ich denke, dein Erkerzimmer am Ende des Flurs ist wirklich das schönste«, meinte sie und fragte sich immer noch, was ein junger Mann eigentlich an dieser Wohnung fand, die seit dreißig Jahren nicht mehr renoviert worden war und in der die Tapeten verblichen oder grau geworden waren. Die Zimmerdecken konnte man – vor allem in den Ecken, wo sich der Ofenruß sammelte – schon fast als schwarz bezeichnen. Auch die schweren Übergardinen hatten den Schmutz der Jahrzehnte aufgenommen, und wenn Lilo sie vorsichtig zuzog, um nicht zu viel Staub aufzuwirbeln, hatte sie den Eindruck, sie wären im Lauf der Jahre schwerer geworden. Es war zu spät. Sie konnte nichts mehr daran ändern.
    »Aber du kannst dir auch jedes andere Zimmer aussuchen, wenn dir eins besser gefällt, ich lebe seit Jahren nur noch in den zwei Zimmern neben der Küche. In dem einen schlafe ich, und in dem andern sehe ich fern. Die übrigen Räume sind mir egal. Ich habe zwar kein Geld, aber jede Menge Platz.«
    »Nein, nein. Ich finde auch, dass das Erkerzimmer für mich genau richtig ist.«
    Zwei Wochen später klopfte er eines Nachmittags an ihre Tür.
    »Hallo, Lilo«, sagte er, »stör ich dich grade?« Sie schüttelte den Kopf.
    »Ich wollte mir mal das Rollo im Musikzimmer angucken. Das ist ja ständig unten. Ist es kaputt?«
    »Sicher ist es kaputt«, seufzte Lilo, »und was glaubst du, was in dieser Wohnung noch alles kaputt ist. Ich fürchte, die Frage, was hier eigentlich funktioniert, ist schneller und leichter zu beantworten.«
    Das »Musikzimmer« war ihm wahrscheinlich aufgefallen, weil an der Wand ein altes, völlig verstimmtes Klavier stand und darauf ein Kerzenleuchter aus schwerem Messing. Wenn sie sich recht erinnerte, hatten sie die Kerzen im Musikzimmer das letzte Mal 1990 angezündet, als Wilhelm pensioniert worden war. Sie hatten ein paar Freunde und Kollegen eingeladen und ausgelassen gefeiert. Als schon fast alle Gäste nach Hause gegangen waren, hatte eine Freundin auf dem verstimmten Klavier den »Flohwalzer« gespielt, was sich fürchterlich anhörte. Und Lilo und Wilhelm hatten versucht, danach zu tanzen, was katastrophal war. Schließlich waren sie sich selig in die Arme gesunken, und Lilo wusste noch, dass Wilhelm geflüstert hatte: »Jetzt bin ich frei, Lilo, jetzt beginnt ein neues Leben. Wir werden verreisen, die Welt sehen, so viel herumkommen, dass wir jede Kokosnuss in Polynesien, jeden Kieselstein im Flusslauf des Arno und jede Muschel am Nordseestrand persönlich kennen.«
    Nicht ein einziges Mal waren sie danach bis zu Wilhelms Tod zusammen verreist. Nicht mal nach Bad Bevensen, wo Wilhelm so gut seine Arthrose hätte behandeln lassen können. Sie blieben Tag für Tag in der Wohnung, gingen von Zimmer zu Zimmer und saßen am Fenster. Wilhelm in seiner groben, grauen Strickjacke und Lilo mit ihrer selbst gehäkelten blasslila Stola um die Schultern.
    Und Wilhelm erzählte von Borneo, wo es noch Menschenfresser gab und der Skalp eines Menschen so viel wert war wie ein toter Gorilla. Darum wollte er auf seiner Weltreise dort keinesfalls Station machen.
    In den letzten Jahren ging er auch nicht mehr auf die Straße oder in den Hof, erlebte die Welt nur noch vom Fenster aus.
    Lilo beklagte sich nicht, sie machte ihm auch nie einen Vorwurf. Aber sie hatte die Nacht im Musikzimmer und seine Worte nie vergessen.
    Und nun fragte Raffael nach dem Musikzimmer.
    Sie stand auf. »Gehen wir doch einfach hinein«, sagte sie.
    Im Zimmer war es stockdunkel, und Lilo schaltete die Deckenlampe ein. Durch die dunkelgelbe Schale mit bräunlichem Muster drang kaum Licht.
    Sie wusste, wie scheußlich die Deckenbeleuchtung war und dass man sie eigentlich nicht als »Beleuchtung« bezeichnen konnte, und sie sah auch den entsetzten Blick, den Raffael an die Decke warf.
    So ziemlich jede Unzulänglichkeit dieser Wohnung war ihr bekannt, aber sie konnte und wollte nichts mehr daran ändern. Für Modernisierungsarbeiten war sie zu alt, und mit ihrer Witwenrente konnte sie keine großen Sprünge machen.
    Schnurstracks ging sie zum Fenster und öffnete die Vorhänge.
    Aber viel Licht kam wegen des Rollos auch jetzt nicht herein.
    Raffael ging zum Fenster und besah es sich genauer. Es ließ sich weder verstellen noch rauf- oder runterziehen.
    »Wozu brauchst du das Rollo?«, fragte er.
    Sie

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