Bewusstlos
brauchte lange, den Knopf zu öffnen und die Brieftasche herauszuziehen.
Ja, richtig. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Er hatte die fünfzig Euro herausgenommen, die Brieftasche zurück in die Brusttasche gesteckt und die Jacke zu Hause gelassen.
Die Erleichterung war so groß, dass er sich einen Moment setzen und seinen Atem beruhigen musste. Wo auch immer er in der vergangenen Nacht gewesen war, seine Papiere hatte er jedenfalls nicht irgendwo liegen lassen.
Hastig durchsuchte er die Fächer. Papiere, Geld – alles da.
Ohne Lilo noch einmal zu begegnen, verließ er die Wohnung.
Einen Computer besaß Raffael nicht, aber er kannte ein Internetcafé in der Kantstraße, in das er ging, wenn er im Internet einiges nachsehen oder E-Mails abschicken wollte. Er hasste den Laden, weil er dreckig war und den Charme einer Bahnhofstoilette hatte. Kein Ort, an dem man gern und länger seine Zeit verbrachte.
Raffael bestellte notgedrungen ein Bier und begann im Internet ein ähnliches Messer zu suchen wie das, was er verloren hatte. Seine Kollegen kannten ihn nur mit seinem Messer, es gehörte einfach zu ihm, war immer zur Hand, und er gebrauchte es auch bei der Arbeit im Theater häufig. Sie würden sich wundern, wenn er plötzlich keins mehr hatte. Außerdem fühlte er sich ohne Messer einfach nackt und schutzlos.
Nach einer Dreiviertelstunde hatte er eins gefunden, das fast genauso aussah wie sein altes. Es hatte eine Klingenlänge von elf Komma drei Zentimetern, und der Griff hatte eine Elfenbeineinlage mit Perlmuttsplittern. Es kostete hundertneunundachtzig Euro. Ein Vermögen, wenn man bedachte, dass man Springmesser schon ab sieben Euro haben konnte.
Aber dennoch war es gut zu wissen, dass er das Messer per Post in spätestens zwei Tagen bekommen würde. Und wenn er dann das glatte, kühle, schwere Metall in seiner Jackentasche fühlte, schaffte er es vielleicht auch wieder daran zu glauben, dass alles gut war. Nichts war geschehen, es war alles in Ordnung.
In der Kantine war jetzt am frühen Nachmittag noch wenig Betrieb.
In einer Ecke saßen Babette und Ingrid, zwei Maskenbildnerinnen, die, bis die Schauspieler zum Schminken kamen, damit beschäftigt waren, Echthaarperücken zu knüpfen. In den Pausen unterhielten sie sich häufig über ihre Verdauungsprobleme, was Raffael bisher davon abgehalten hatte, Babette, die Jüngere der beiden, anzubaggern.
Ein Regisseur, der demnächst ein Boulevardstück inszenieren sollte, redete auf Gregor, den Dramaturgen, ein, der grundsätzlich nie ohne Computer in der Kantine erschien und jetzt schweigend, aber mit ungemein ernstem, wichtigem Gesichtsausdruck vor dem aufgeklappten Laptop zuhörte.
Doch jetzt interessierte ihn niemand, er musste erst mal mit Erika reden und dann auf die Hinterbühne gehen, um zu sehen, ob Bruno und Joachim schon da waren, beziehungsweise wann sie auf dem Dienstplan standen.
Erika wusch haufenweise Gläser, die noch von der Premierenfeier den gesamten Tresen zupflasterten.
»Morgen, Erika«, sagte er und versuchte zu grinsen, »was haste denn zu essen?«
»Belegte Brötchen. Warm gibt’s erst um zwei, wenn die Probe zu Ende ist. Seit wann kommst du denn so früh aus dem Bett? Nach so ’nem Abend?«
»Wieso? War da was Besonderes?«
»Nö. War eigentlich wie immer. Nur dass ihr alle so blau wart, dass es eigentlich für den ganzen Monat reichen müsste. Erstaunlich, dass du schon wieder unter den Lebenden weilst. Willste ’n Brötchen? Salami, Schinken oder Käse?«
»Zweimal Schinken. Und ’n Bier.«
»Na, sag mal!« Erika stemmte empört die Hände in die Hüften.
»Lass mal, Erika, alles in Ordnung. Hab erst am Nachmittag Umbauprobe und abends Vorstellung. Alles kein Problem.«
Erika schnaufte nur, aber sagte nichts. Dann legte sie die Brötchen auf einen Teller und knallte das Bier, das eigentlich nicht gezapft, sondern nur ins Glas gelaufen war, vor Raffael auf den Tresen.
»Danke.« Er nahm einen tiefen Zug und fühlte sich augenblicklich besser.
»Na? Schmeckt’s schon wieder?«
»Aber sicher doch. Es geht mir übrigens blendend, Erika. Aber sag mal, wann war hier Schicht, wann sind wir gestern eigentlich gegangen, ich meine, wann hast du uns rausgeschmissen?«
»Kurz vor zwei. Irgendwann is’ ja auch mal gut. Ich steh hier jeden Tag ab neun auf der Matte, ausgeschlafen hab ich schon seit Jahren nicht mehr.«
»Schon gut, Erika, ich weiß, und du tust mir auch echt leid!« Er grinste und brachte Erika damit ein kleines
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