Bewusstlos
zuckte mit den Schultern. »Ich brauche es gar nicht. Was brauche ich denn überhaupt noch in dieser Wohnung?«
Auf philosophische Diskussionen wollte sich Raffael jetzt nicht einlassen. Ohne eine weitere Erklärung ging er in die Küche, holte den Werkzeugkasten aus der Speisekammer und begann, das Rollo abzumontieren.
Nach zehn Minuten fiel Tageslicht ins Zimmer.
Raffael strahlte. »Du hattest völlig vergessen, dass dein Teppich hier vor dem Fenster rot ist, stimmt’s? In der dunk len Beleuchtung sah er braun aus.«
Lilo verschlug es die Sprache. So hatte sie dieses Zimmer wirklich schon ewig nicht mehr gesehen. Ein wunderschöner, Jahrzehnte nicht mehr genutzter Raum.
Eigentlich ein Jammer.
Am nächsten Tag putzte Raffael das hohe Fenster, saugte und entstaubte das Zimmer und brachte die Vorhänge in die Reinigung. Als er sie, auf einer wackligen Leiter stehend, vier Tage später wieder anbrachte, war der Raum nicht wiederzuerkennen.
Lilo war so glücklich, dass sie nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte. Ein einfacher Dank erschien ihr zu wenig und zu banal.
6
Raffael schob sein Handy in die Hosentasche, zog einen Pulli über und wollte gerade seinen Wohnungsschlüssel nehmen und losrennen, als ihn ein Gedanke vollkommen lähmte und er wie erstarrt innehielt: seine Brieftasche. Daran hatte er bis jetzt in der Aufregung noch gar nicht gedacht. Wo war seine verdammte Brieftasche?
Er sah sich um. Auf dem Schreibtisch lag sie nicht und auch nicht in dem kleinen Regal, in dem er normalerweise seine Schlüssel ablegte. Sehr dick war die Brieftasche nicht, weil sie ihn sonst in der hinteren Hosentasche störte. Was brauchte er schon? Eine Kreditkarte, die Karte der Krankenversicherung, Personalausweis – Ende. Viel Geld hatte er nie dabei, und Münzen gab er nach Möglichkeit immer sofort aus, weil sie die Brieftasche dick und schwer machten. Quittungen sammelte er nicht, und Fotos schleppte er nicht mit sich herum, einfach weil er keine besaß. Schon vor Jahren hatte er alle vernichtet.
Hatte er die Brieftasche gestern Abend mit ins Theater genommen?
Auch daran konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern.
Allmählich geriet er in Panik. Was immer er in der letzten Nacht getan hatte und wo immer er gewesen war, es war sicher nicht gut, wenn er seinen Ausweis und seine Kreditkarte dort zurückgelassen hatte.
Er riss die Ofentür auf, zog alles heraus, was er mühsam hineingestopft hatte, und durchwühlte Jacken- und Hosentaschen. Schon wieder musste er diese widerlich dreckigen Sachen anfassen, und er glaubte sich einzubilden, dass sie sogar noch mehr stanken als vorher.
Nichts. Keine Brieftasche.
Allerdings fand er in seiner Hosentasche einen Fünfzigeuroschein. Den hätte er beinahe irgendwann zusammen mit der Hose verbrannt.
Er stopfte alles zurück in den Ofen, verschloss die Tür und stand auf. Sein T-Shirt war bereits durchgeschwitzt.
Hektisch wie ein fantasieloser und ziemlich unorganisierter Einbrecher begann er nun, sämtliche Schubladen und Schrankfächer zu durchsuchen, obwohl er seine Brieftasche niemals in eine der Schubladen legte. Aber wer weiß, auf welche idiotischen Ideen er nachts im Suff gekommen war. Und beim Öffnen jeder Schublade betete er, dass er sie sehen möge: seine geliebte schwarze Brieftasche.
Aber sie war nicht da.
Sein Magen rebellierte. Er bekam Bauchschmerzen, denn er reagierte auf jede Aufregung oder Angst mit Durchfall.
Er stürzte ins Bad. Und während er auf der Toilette saß, fiel es ihm wieder ein: Gestern Nachmittag hatte er sich, bevor er ins Theater ging, fünfzig Euro lose in die Hosentasche gesteckt. In der Kantine ließ er sowieso anschreiben, und hinterher reichten fünfzig Euro, um sich zu betrinken.
Aber offensichtlich hatte er sich gar nicht weiter betrunken, oder er hatte sich in der Kantine schon so abgefüllt, dass er einfach nicht mehr weitersaufen konnte. Aber wo war er gewesen?
Das konnte er jetzt nicht klären, wichtiger war die Brieftasche. Doch er hatte nicht die geringste Idee, wo er noch suchen sollte. Außerdem musste er ins Theater.
Neben dem Sessel lag ein Haufen Klamotten. Ein Pullover, mehrere dreckige T-Shirts, zwei Jeans und seine Jeansjacke. Wann hatte er die zum letzten Mal angehabt? Gestern? Nein, gestern hatte er ja die Lederjacke getragen. Oder vorgestern? Vorgestern vielleicht.
Er wühlte sie hervor und schlüpfte hinein. Befühlte ungläubig die dicke linke Brusttasche. Seine Hände zitterten, und er
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