Bewusstlos
für alles!‹
Ich glaube, ich stotterte: ›Das wagst du nicht‹, denn ich war völlig fertig.
›Doch, ich wage es‹, antwortete er ganz cool. ›Weil es mir auf den Nerv geht. Weil es so verlogen ist. Mein Gott, Christine, Svenja ist seit vier Jahren tot! Aber wir leben! Raffael und ich. Doch das scheinst du komplett zu vergessen. Und ich bin es so leid, dass Svenja für alles herhalten muss. Für deine miesen Stimmungen, deine Müdigkeit, deine Antriebslosigkeit, deine Vergesslichkeit. Es hätte noch gefehlt, dass du mir heute erzählt hättest, es lag an Svenja, dass du die Soße verwürzt hast. Himmel, Christine, komm doch endlich mal zu dir, verdammt!‹
›Du denkst immer, es regelt sich schon alles irgendwie von allein, nicht?‹, brüllte ich ihn an. ›Alle müssen nur einfach zu sich kommen. Ich muss zu mir kommen, Raffael muss zu sich kommen, du bist ja offensichtlich schon lange zu dir gekommen. Wahrscheinlich war nach Svenjas Beerdigung die Sache für dich abgehakt. Ja, wie naiv ist das denn? Und wie herzlos!‹
Karl stauchte mich zusammen, als wäre ich eine seiner Studentinnen. Zur Unterstützung machte er seine widerliche Dozentengeste: bei gehobener Hand berühren sich Daumen und Zeigefinger. ›Weil ich im Gegensatz zu dir begriffen habe, dass das Leben weitergeht. Dass ich weiterleben will. Und dass lebendige Menschen um mich herum sind, die meine Aufmerksamkeit verdienen. Ich finde es nebenbei bemerkt nicht sehr intelligent, sich nur noch um sich selbst zu drehen und im Selbstmitleid zu versinken. Das bringt nämlich nichts. Gar nichts!‹
›Dann ist zwischen uns ja wohl alles gesagt‹, bemerkte ich kraftlos.
›Ja, das ist es wohl‹, bestätigte er kühl.
Karl ging dann Türen schlagend aus dem Zimmer. Wie immer. Etwas Besseres fiel ihm nie ein.
Ich sank in einen Sessel und fing an zu weinen. Was bedeutete das jetzt? War unsere Ehe beendet?
Karl, flehte ich, bitte, bleib bei mir. Bitte, bitte, bleib bei mir.
Ich hab dann versucht, mir das ganze Gespräch noch einmal in Erinnerung zu rufen, weil mir nicht klar war, wie es zu dieser Eskalation kommen konnte, und erst da wurde mir bewusst, wie laut unser Streit gewesen war. Wir hatten uns fast nur angeschrien.
Plötzlich bekam ich Angst, dass Raffael alles gehört haben könnte.
Ich bin nach oben in sein Zimmer gerannt.
Aber er war nicht mehr da.«
»Hatten Sie nicht schon in dem Moment, als Raffael nach oben lief, Angst, er könnte zu viel von dem Streit mitbekommen haben? Und sich das vielleicht zu Herzen nehmen?«
Christine überlegt. Dann sagt sie ehrlich: »Nein, ich glaube nicht. Ich habe während der ganzen Auseinandersetzung nicht an Raffael gedacht. Ich hab ihn gar nicht wahrgenommen. Er saß da und war mir ganz egal. In diesem Streit ging es mir nur um meine Ehe, und ich spürte, dass es existenziell wurde. Da konnte ich nicht noch auf Raffael Rücksicht nehmen. Aber vielleicht wäre das Gespräch anders verlaufen, wenn er noch länger am Tisch gesessen hätte. Das kann sein, aber ich weiß es nicht. Vielleicht hätten wir uns den einen oder anderen Satz verkniffen. Oder wir hätten vorher abgebrochen. Kann alles sein.«
»Es war ein Streit. Aber Sie waren wahrscheinlich zum ersten Mal seit Svenjas Tod wieder hundertprozentig auf Ihren Mann konzentriert. Sie waren wieder Ehefrau und nicht Mutter eines toten und eines verstörten Kindes.«
»Ja, vielleicht.«
»Ich weiß nicht, wie dieser Tag weiterging, aber der Ehebruch Ihres Mannes und der Streit haben Sie beide anscheinend nicht dauerhaft auseinandergebracht. Obwohl Sie das Ende Ihrer Beziehung schon indirekt ausgesprochen hatten.«
»Ja, das stimmt.«
»Aber Raffael hatte ganz genau gespürt, dass es nicht mehr um ihn ging. Vor ihm saß ein Paar. Ein zerstrittenes zwar, aber da gab es eine Verbindung, und er war außen vor. Kann das sein?«
»Weiß ich nicht.«
»Seit Svenjas Tod hatte er so etwas noch nicht erlebt. Er war immer der Mittelpunkt gewesen, das Zentrum der Sorge seiner Eltern. Und plötzlich hatte sich die Problematik verlagert.«
»Das stimmt, ja.«
»Es muss fürchterlich für Raffael gewesen sein. Erstens hatte er die Aufmerksamkeit seiner Eltern verloren, und dann waren diese beiden Menschen, die einzigen, die er noch hatte, die für ihn sorgten und ihn liebten und die sein Zuhause darstellten, plötzlich zerstritten und drohten, sich zu trennen. Das hat ihm sicher endgültig den Boden unter den Füßen weggezogen.«
»So hab ich das
Weitere Kostenlose Bücher