Bewusstlos
noch nie gesehen.«
»Bitte, Frau Herbrecht, erzählen Sie weiter.«
»Es war nichts Außergewöhnliches, dass Raffael für ein paar Stunden verschwand, ohne dass wir wussten, wohin. Er ist ziemlich häufig einfach so verschwunden. Denn er hat ja nicht mit uns geredet, er hat auch nicht auf die Tafel geschrieben, die für kurze Infos in der Küche hing, und er legte uns auch keine Zettel hin. Irgendwann tauchte er dann aber immer wieder auf. Wie ein kleines Gespenst plötzlich aus dem Nichts. Oder er saß einfach wieder in der Küche, als wäre er nie weg gewesen.
Wir haben dieses Verhalten immer toleriert, es blieb uns ja auch nichts anders übrig, wenn wir ihn nicht einsperren oder festbinden wollten. Das, was wir sagten, und die Ratschläge und Verbote, die wir aussprachen, erreichten ihn schon lange nicht mehr.
Aber diesmal war ich irgendwie unruhig. Weil er nicht aus eigenem Antrieb, sondern sicher wegen unseres Streits gegangen war.
›Raffael ist abgehauen‹, sagte ich zu Karl, nachdem ich in Raffaels Zimmer gewesen war.
Karl hat lapidar gemeint, dass das ja wohl auch nicht anders zu erwarten gewesen war. Sein Gesicht hatte er weggedreht, sodass ich ihm noch nicht einmal ansehen konnte, ob es ihn überhaupt interessierte.
Nach zwei Stunden hab ich es dann nicht mehr ausgehalten.
Karl war hinterm Haus und hat Holz gehackt.
›Musst du eigentlich jedes dämliche Klischee erfüllen?‹, hab ich ihn angefaucht. ›Alle Männer gehen nach einem Ehekrach raus und hacken Holz. Fällt dir nichts Besseres ein?‹
Es war unter seiner Würde, darauf zu antworten.
›Raffael ist jetzt zwei Stunden weg‹, sagte ich dann wesentlich ruhiger. ›Ich mach mir Sorgen.‹
Karl antwortete, dass er noch eine Stunde warten und ihn dann suchen würde, und hackte weiter.
Aber er war nicht so cool und ruhig, wie er tat. Im Grunde seiner Seele machte er sich genauso große Sorgen wie ich. Denn bereits zehn Minuten später hat er mich geholt und wollte losfahren.
Es hat in Strömen gegossen, und die Regentropfen tanzten auf der Straße. Karl ist ganz langsam gefahren, um wenigstens flüchtig nach links und rechts über die Fenne und in die Gräben sehen zu können. Ich sagte nichts, aber wir beide wussten, dass Raffael kein Kind war, das einfach so die Wirtschaftswege entlanglief. Und bei diesem Wetter schon gar nicht. Er hatte immer ein Ziel: einen Baum, eine Höhle, eine ganz bestimmte Stelle an einem Bach, die Kuhle unter einem Busch – was weiß ich.
Und daher war mir klar, wohin Karl fuhr. Zu Harmsens Scheune.«
Christines Stimme versagt. Sie ringt um Beherrschung und bittet um ein Glas Wasser. Dann zwingt sie sich, weiterzuerzählen.
»Können Sie sich vorstellen, Doktor, wie es sich anhört, wenn sich das Schreien des eigenen Kindes mit dem Blöken und Quieken von Schafen in Todesangst vermischt? Ich hätte es mir jedenfalls niemals vorstellen können, wenn ich es nicht selbst gehört hätte. Dieses Kreischen und Jammern sterbender Kreaturen höre ich heute noch. Das wird man nie mehr los.
Karl sprang aus dem Auto und rannte zum Scheunentor. So schnell hatte ich ihn überhaupt noch nie rennen sehen.
Ich war einen Moment wie blockiert vor Angst, aber dann bin ich ihm hinterhergerannt.
Harmsen hatte seine Schafe offensichtlich für einige Stunden in die Scheune getrieben, damit der Regen sie nicht völlig durchweichte.
Aber wie soll ich das, was ich dann sah, beschreiben, Doktor?«
Sie weint.
»Versuchen Sie’s.«
»Als wir vier Jahre zuvor Svenja fanden, war alles bereits geschehen, wir konnten nicht mehr helfen. Aber diesmal waren wir mittendrin. Das Grauenhafte passierte in diesem Moment.
Mein Junge, mein Raffael, hat mit einem Messer, das viel zu groß war für seine kleine Hand, inmitten der Lämmer gestanden und wie besessen auf sie eingestochen. In die Augen und in die offen stehenden und blökenden Mäuler – überallhin –, während sie hilflos schrien. Es war so furchtbar, so entsetzlich … Er war von oben bis unten mit Blut besudelt und stach wie ein Wilder, wie ein Wahnsinniger um sich, versuchte, den Lämmern die Kehlen durchzuschneiden. Überall lagen tote Tiere herum, andere wanden sich unter Schmerzen und quiekten in Todesangst. Dann versuchten sich die Mutterschafe todesmutig auf Raffael zu stürzen. Aber er stach einfach weiter auf jedes Tier ein, das ihm nahe kam. In die Bäuche, in die Rücken, in die die Augen …
Mein Junge war verrückt geworden!
Karl hat sofort reagiert. Er
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