Bewusstlos
Flasche Wasser kaufen sollte, aber auch das war ihm zu anstrengend, und er ging weiter.
Nach wenigen Minuten lag direkt vor seinen Augen ein Hotel. Schäbig, mit rosafarbener Fassade, aber das interessierte ihn nicht. Es war immerhin ein Hotel. Da gab es Zimmer, und die hatten Betten.
Raffael überquerte die Straße und checkte ein.
Er funktionierte wie eine Maschine, füllte den Anmeldezettel aus, ohne zu wissen, was er schrieb, nahm den Zimmerschlüssel in Empfang, schleppte sich mit seiner Reisetasche in den ersten Stock, schloss das Zimmer ab, ließ sich aufs Bett fallen und schlief augenblicklich ein.
Fast zwölf Stunden später wurde er wach, weil er kaum noch atmen konnte. Die Luft in seinem Zimmer war stickig und schwül.
Mühsam stand er auf, öffnete das Fenster und sah hinaus. Die Stadt war jetzt wesentlich lebendiger als am Morgen, und er musste dringend eine Bar oder ein Geschäft finden, wo er etwas zu trinken bekam.
Er zog seine Sachen aus und ging ins Bad. Dort putzte er sich die Zähne, trank lange und ausgiebig Wasser aus der Lei tung und stellte sich unter die Dusche. Sie war in der Wand festgeschraubt, ließ sich nicht in die Hand nehmen und nicht bewegen. Es gab keine Duschwand, nur eine Vertiefung im Boden, wo das spärliche und lauwarme Wasser abfloss.
Raffael war es egal. Auch die schmutzig gelben Fliesen und die keineswegs saubere Toilette interessierten ihn nicht.
Er duschte lange, so lange, bis er das Gefühl hatte, trotz des dünnen Wasserstrahls einigermaßen sauber und erfrischt zu sein, und dachte an gar nichts.
Dann trocknete er sich ab, zog seine Jeans und ein sauberes T-Shirt an, nahm seine Reisetasche, hängte sie sich um und verließ das Zimmer. Er wollte nicht, dass irgendeine Schlampe von Zimmermädchen sein Geld fand und auf Nimmerwiedersehen damit verschwand. Wenn er das Geld bei sich hatte, ging er auf Nummer sicher. Er würde jeden zusammenschlagen, der seine Tasche auch nur berührte.
Raffael schlenderte die Hauptstraße von Montevarchi entlang, die laut und hässlich war. Aber zumindest Bars gab es genug. In der ersten trank er zwei Kaffee und aß ein Brötchen mit Schinken, in der zweiten trank er zwei Gläser Rotwein. Danach fühlte er sich schon wieder fast wie ein Mensch.
Während er auf dem unbequemen Barhocker saß, von dem er immer wieder herunterrutschte, weil das Sitzkissen so prall war, durchsuchte er seine Brieftasche. Es waren nur einhundertzweiundfünfzig Euro und siebenunddreißig Cent darin, sein Personalausweis mit einer Adresse in Berlin-Moabit, wo er eine Weile bei einem Kumpel gewohnt und sich wahrhaftig beim Einwohneramt gemeldet hatte. Mit diesem Unfug hatte er dann aufgehört. Außerdem waren in der Brieftasche das abgestempelte Bahnticket nach Montevarchi, das er jetzt eigentlich auch wegwerfen konnte, ein paar Bons, von denen er nicht wusste, warum er sie überhaupt in die Brieftasche gesteckt hatte, und mehr nicht. Diese Brieftasche würde er sofort jedem Typen in die Hand drücken, der auf die Idee käme, ihn zu überfallen. Niemand konnte ahnen, dass in seiner Tasche, in der saubere und schmutzige Wäsche hin und her flog, seine wahren Schätze verborgen waren.
Aber das, was er suchte, fand er in seiner Brieftasche nicht.
Verdammt, irgendwo hatte er doch den kleinen Zettel, auf dem er sich die italienische Adresse seiner Eltern notiert hatte, hingesteckt? Er stand auf und fuhr mit der Hand in die Taschen seiner Jeans und seiner Jacke. Auch da war der Zettel nicht.
Dann öffnete er die Reisetasche und begann, sie systematisch zu durchsuchen. Schließlich, als er schon drauf und dran war, vor Wut auf der Tasche herumzutrampeln, fand er den Zettel in einer kleinen Innentasche mit Reißverschluss, in die nicht mehr als ein Schlüsselbund und ein Kugelschreiber passten.
Dann ging er mit seiner wertvollen Tasche in der Hand zum Tresen.
»May I have a phone-call?«, fragte er den Barmann.
Dieser verstand nur Bahnhof. Erst als Raffael das übliche Zeichen für Telefonieren mit abgespreiztem kleinen Finger und Daumen machte, kapierte der Mann.
»Italia?«, fragte er.
Raffael nickte, und der Barmann schob bereitwillig das Telefon über den Tresen.
Schon nach dem dritten Klingelzeichen meldete sich der Anrufbeantworter: »Castelletto Sovrano. Guten Tag. Sie sind mit Christine und Karl Herbrecht verbunden. Leider rufen Sie außerhalb unserer Bürozeiten an. Bitte melden Sie sich zwischen zehn und dreizehn Uhr, wir sind dann gern für Sie
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