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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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fragte, ob Raffael in psychologischer Behandlung ist, hab ich gesagt, nein, weil es noch zu früh ist. Weil er erst mal zur Ruhe und auf andere Gedanken kommen soll.
    Sie fand das falsch, weil ein Trauma so schnell wie möglich behandelt werden muss. Sonst entwickelt sich eine Posttraumatische Belastungsstörung, und das ist dann ein richtig großes Problem. Vor allem bei Kindern.
    Ich hab ihr versprochen, noch mal mit Karl über das Thema zu reden, und hab mit ihr vereinbart, dass Raffael nach den Sommerferien auf alle Fälle wieder zur Schule geht. Ob er eventuell ein Jahr zurückgestellt wird, sollte dann erst entschieden werden.
    Und dann kam der Sommer. Und der war richtig schlimm. Wir sind mit Raffael drei Wochen nach Dänemark in ein kleines Ferienhaus gefahren und wollten uns nur um ihn kümmern. Wir wollten mit ihm am Strand spazieren gehen, baden, viel mit ihm reden, spielen und herumalbern.
    Aber es hat nicht funktioniert. Er hockte nur da wie ein Häufchen Unglück.
    Ab August ist er dann wieder in die Schule gegangen, aber auch da war es das gleiche Spiel. Er hat brav in seine Hefte geschrieben, sagte aber keinen Ton. Die Kinder fanden ihn natürlich doof und langweilig. Niemand hatte Lust, mit ihm zu spielen oder ihn vielleicht mal zum Geburtstag einzuladen. Und auch Fiete, zu Hause bei uns in Tetenbüll, konnte nichts mehr mit ihm anfangen. Raffael war vollkommen isoliert.
    Und dann ist mir eines Morgens der Kragen geplatzt. ›Feierabend‹, hab ich zu Karl gesagt, ›wir haben ihm lange genug Zeit gegeben, aber wir kommen so nicht weiter. Ich finde, wir sollten ihm jetzt einen Therapeuten suchen. Es wird höchste Zeit.‹
    Karl hat nur mit den Achseln gezuckt. ›Wenn du meinst‹, sagte er, ›dann mach es. Ich werd dich nicht daran hindern, aber ich halte es nach wie vor für falsch.‹
    Mittlerweile war ich aber nicht mehr zu verunsichern. Ich hab gewusst, dass Raffael dringend Hilfe brauchte, und wir konnten sie ihm nicht geben.
    Ich hab für ihn einen Therapieplatz bei Dr. Marietta Buschhauer in Itzehoe gefunden. Das war zwar jedes Mal eine weite Fahrt, aber immerhin. Kennen Sie sie?«
    »Nein. Ich wohne und arbeite in Berlin.«
    »Ich dachte ja nur. Durch Zufall vielleicht. Hätte ja sein können.«
    »Und? Was erreichte Frau Dr. Buschhauer?«
    »Nichts. Aber eines änderte sich. Er saß nicht mehr still und stumm herum, sondern rannte wie ein Wilder durch die Gegend. Seine Hände waren ständig feucht, als hätte er gerade in einen Wassereimer gefasst, und sein Herz raste. Meist war er knallrot und irrte ziellos umher. Und wenn ich versucht hab, ihn festzuhalten und in den Arm zu nehmen, schlug er um sich und wollte mich kratzen und beißen. Schlimmer als eine bissige Raubkatze.
    Auch die Lehrer von Raffael waren mittlerweile verzweifelt, und Frau Dr. Buschhauer legte uns nahe, ihn in eine Klinik einweisen zu lassen, aber wir haben abgelehnt. Das heißt: Karl lehnte ab. Kategorisch.«
    »Und wie ging es Ihnen dabei?«
    Statt einer Antwort beginnt Christine zu weinen.
    Dr. Corsini holt Kaffee und macht eine Viertelstunde Pause.
    »Können Sie jetzt weiterreden?«
    Christine nickt.
    »Raffael war elf. Da passierte etwas Schreckliches.
    Karl und ich sind in den Jahren nach Svenjas Tod nicht besonders gut miteinander ausgekommen. Am Anfang lag es daran, dass wir uns nicht trauten, miteinander auch mal glücklich zu sein. Auch miteinander zu schlafen empfanden wir als Verrat an Svenja. Und allmählich hatten wir uns daran gewöhnt. Wir lebten nebeneinanderher, meine ganze Sorge galt nur noch Raffael, und Karl verbitterte.
    Ich kann mich noch daran erinnern, dass es ein nebliger, nasskalter und ziemlich stürmischer Novemberabend war. Karl hatte seine letzte Vorlesung um neunzehn Uhr, und ich wusste, er würde so gegen halb zehn zu Hause sein. Ich hatte ein gefülltes Käsebaguette vorbereitet, das ich um neun in den Ofen schieben wollte, und zwei Flaschen Weißwein kalt gestellt.
    Um acht rief er an und sagte, er hätte noch eine Besprechung in der Uni, das könnte dauern, und er wollte lieber im Hotel schlafen.
    Ich hab das Baguette in den Kühlschrank gelegt und bin fast geplatzt vor Wut. Also musste ich wieder den ganzen Abend allein rumhocken.
    Und diese ganze Geschichte mit der Besprechung war von A bis Z erlogen. Davon war ich fest überzeugt. Wir hatten seit Wochen nicht miteinander geschlafen, und er war den ganzen Tag mit jungen, knackigen Studentinnen und hochattraktiven Professorinnen

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