Bewusstlos
ist auf ihn zugesprungen, hat ihm das Messer aus der Hand geschlagen und ihn festgehalten. Er hat ihn mit seinen starken Armen umschlungen und ganz fest an sich gedrückt.
Raffael zappelte wie ein Wilder, schlug um sich und brüllte wie die Schafe, die er gequält und getötet hatte, aber gegen seinen Vater hatte er keine Chance.
›Ruhig, Raffael, ganz ruhig.‹ Karls Stimme war sanft, aber fest und bestimmt. ›Ganz ruhig. Ich bin da. Es ist alles gut. Hör auf. Es ist genug. Du brauchst nicht mehr zu kämpfen.‹
Karl warf mir nur einen schnellen Blick zu. ›Ruf einen Krankenwagen, Bauer Harmsen und die Polizei. Beeil dich.‹
Er hielt Raffael nach wie vor fest umklammert, und ich sah deutlich, wie angespannt der kleine Körper immer noch war. Wie ein Raubtier vor dem Sprung. Mit all seiner Kraft wehrte sich Raffael gegen den unerbittlichen Griff seines Vaters, aber er schaffte es nicht. Karl war stärker. Zum Glück.
Ich hab telefoniert und dann dagestanden wie gelähmt. Wusste nicht, wie ich das Wispern der sterbenden Tiere ertragen sollte. Es schnarrte mir in den Ohren und brannte sich mir ins Hirn. Ich hab gebetet, dass die Polizei schnell kommen und die Tiere erschießen würde. Ich war nicht in der Lage, ihnen fachgerecht die Kehle durchzuschneiden, um sie zu erlösen.
Und Karl konnte Raffael natürlich nicht loslassen.
Es hat zwanzig unendliche Minuten gedauert.
Und dann waren plötzlich alle da. Krankenwagen, Polizei und Bauer Harmsen.
Ich hab gesehen, dass Kurt Harmsen die Tränen in den Bart rollten, als er seinen sterbenden Schafen schnell und gekonnt die Kehle durchschnitt.
Raffael hatte vier Tiere getötet und sieben verletzt. Fünf davon wurden von Bauer Harmsen erlöst, zwei brachte er zu Paul, dem Tierarzt in Uelvesbüll, der ihnen vielleicht noch helfen konnte.
Raffael bekam eine Beruhigungsspritze. Man konnte regelrecht sehen, wie er augenblicklich in Karls Armen erschlaffte.
Karl trug ihn in den Notarztwagen. Ich stieg mit ein, blieb bei Raffael und hielt seine Hand, aber er schlief und merkte es nicht.
Karl ist dann dem Notarztwagen mit unserem Auto gefolgt. Nach Heide. In die Kinderpsychiatrie.
Raffael wurde stationär aufgenommen, und nach den Gesprächen mit dem behandelnden Arzt hatte ich die Hoffnung, dass jetzt endlich etwas passiert.
Karl nicht. Als wir nach Tetenbüll zurückfuhren, sagte er nur: ›Wie kannst du bloß glauben, dass es irgendjemand geben wird, der ihn retten kann?‹
Beim Abendessen haben wir geschwiegen. Es war ein unerträgliches, angespanntes Schweigen. Und dann hab ich zu ihm gesagt: ›Wir dürfen uns nicht verlieren, Karl, wir haben doch nur noch uns.‹
Und er hat wortlos genickt.
In der Psychiatrie in Heide hat Raffael schwere Psychopharmaka bekommen. Er wurde regelrecht apathisch, seine Bewegungen wurden langsamer, und er schlief viel.
Er ist zwei Jahre lang behandelt worden.
Aber als er wieder nach Hause kam, hatte sich nichts geändert. Nichts hatte sich verbessert. Es war furchtbar. Und dann suchte Karl für ihn ein geeignetes Internat, weil er es nicht mehr aushielt, weil wir überfordert waren, weil er endlich wieder leben wollte, wie er es ausdrückte.
Mir wurde klar, wie sehr Raffaels Schweigen in der langen Zeit Karl verletzt hatte. Und es war ja nicht nur das. Er wehrte sich gegen die geringste Berührung. Ihn zu umarmen war völlig unmöglich.
Es brach mir das Herz, als wir ihn wegbrachten.
Niemals werde ich vergessen, wie er mich ansah, Doktor. So unendlich traurig und enttäuscht. Als wäre die ganze Welt gegen ihn und hätte ihn verraten. Dieser Blick war so hoffnungslos, aber gleichzeitig auch flehend und ein einziger Schrei nach Liebe.
›Bitte, hilf mir, Mama‹, sagte er.«
PAOLA
33
Toskana, Juli 2011
Er hatte Mühe, die wenigen Stufen, die aus dem Bahnhofsgebäude führten, hinunterzugehen, und taumelte über die Piazza. Nicht weil er betrunken, sondern weil er so müde war. Er bemerkte den Springbrunnen nicht, nicht die Bänke in der Morgensonne, auf denen auch schon zu dieser frühen Stunde alte Männer saßen, rauchten, ein paar Worte wechselten oder einfach nur in die Ferne starrten. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er war und wo er hinwollte, hatte keine Kraft mehr, nachzudenken oder Pläne zu machen, wollte nur noch in ein Bett.
Er überquerte die Piazza und bog links in die vorbeiführende Straße ein. Vor einem kleinen Supermarkt blieb er kurz stehen und überlegte, ob er hineingehen und eine
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