Bianca Arztroman Band 0031
stand vor dem prachtvollen Herrensitz aus dem achtzehnten Jahrhundert und war beeindruckt. Es war das schönste Anwesen dieser Art, das sie je gesehen hatte.
Sie atmete einmal tief durch und drückte auf die Klingel neben dem Eingangsportal. Der Duft der Rosen, die den perfekt gepflegten Rasen säumten, drang bis zu ihr. Als sie die Stellenanzeige gelesen hatte, war es ihr wie ein Wink des Schicksals erschienen: eine gut dotierte Stelle als Krankenschwester, möglichst weit weg von London und den Erinnerungen, die daran hingen. Doch jetzt, wo es soweit war, war ihr doch beklommen zu Mute.
“Schwester Rendall?”
Kate riss sich aus ihren Gedanken. Ein schlanker junger Mann hatte die Tür geöffnet und sah sie fragend an.
“Ich bin Martin Letham, Dr. Fletts Privatsekretär. Sie sind doch Schwester Rendall?”, fragte der junge Mann nach.
Kate stand Augenblicke später in der riesigen Halle und blickte sich ehrfürchtig staunend um. An den Wänden hingen gewaltige Familienporträts in Öl. Von einer Galerie im Obergeschoss führte eine breite Marmortreppe herab, geradezu geschaffen für große Empfänge, Herren in Frack und Damen in rauschenden Ballkleidern.
“Malden wirkt auf Fremde zuerst immer etwas einschüchternd”, sagte Martin Letham, der ihren Gesichtsausdruck bemerkt hatte. “Aber das gibt sich. Stellen Sie sich einfach vor, es wäre Ihr Zuhause, nur ein wenig größer.”
Unwillkürlich schüttelte Kate den Kopf. Die armselige Zweizimmerwohnung, in die sie nach Simons Tod gezogen war, stand in keinem Verhältnis zu dem, was sie hier sah. Und in keinem Vergleich schien auch das Einkommen aus privater medizinischer Forschung zu dem zu stehen, was selbst ein Chefarzt im Krankenhaus verdiente, wenn sich Dr. Flett nach seinem Rückzug aus dem aktiven Berufsleben eine derartige Behausung leisten konnte.
“Das Anwesen gehört nicht eigentlich Dr. Flett”, hörte Kate den Privatsekretär sagen, der anscheinend Gedanken lesen konnte. “Es ist der Familiensitz der verstorbenen Mrs. Flett und wird jetzt als Miss Jodies Erbe verwaltet.” Obwohl es sie nicht das Geringste anging, ob sich Ethan Flett ein Haus wie dieses leisten konnte oder nicht, war Kate irgendwie beruhigt, das zu erfahren.
“Es gehört bestimmt eine Menge Personal dazu, ein Haus wie dieses zu unterhalten?”, erkundigte sie sich, während sie dem hilfreichen Privatsekretär durch eine schier endlose Reihe von Korridoren folgte.
“Könnte man denken. Aber wie Mr. Flett es arrangiert hat, sind es nicht so viele. Es gibt die Köchin Rhona Mathieson, Ted Burton, den Gärtner, und zwei Mädchen, die einmal in der Woche kommen, um sauber zu machen.”
“Mehr nicht?”, wunderte sich Kate. “Dann muss Jodie wirklich eine außergewöhnliche Vierzehnjährige sein. Wie ich Kinder ihres Alters kenne, können die ein Haus in Sekunden auf den Kopf stellen. Außerdem hat Jodie doch bestimmt auch manchmal Freunde zu Besuch.”
“Das Problem kennen wir hier nicht. Jodie hat …” Der Sekretär wurde beinahe verlegen. “Jodie bekommt keine Besuche von Freunden.”
Kate sah ihn verblüfft an.
“Wir sind da”, beendete Martin Letham seine Führung. “Hier finden Sie den Chef. Er wird Ihnen für alle weiteren Fragen zur Verfügung stehen.” Sichtlich erleichtert öffnete er die Tür, vor der sie angekommen waren.
Das will ich hoffen, dachte Kate und trat ein. Sie fand sich in einem großen Studierzimmer wieder. Links und rechts an den Wänden waren hohe Bücherregale, und neben dem Schreibtisch stand ihr neuer Arbeitgeber. Als Kate Ethan Flett erblickte, hatten sich alle vorigen Fragen fürs Erste erübrigt. Das also war, stellte sie überrascht fest, der ‘gemütliche Mittsechziger’, den sie bei ihrem Telefonat vor Augen gehabt hatte. Dieser Mann hier hatte die Figur eines Modellathleten. Der braune Haarschopf war voll und jugendlich. Kate schätzte ihn auf höchstens Ende dreißig.
Immerhin schien er tatsächlich so freundlich zu sein, wie Kates erster Eindruck von ihm am Telefon gewesen war. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er sich ihr zuwandte. Jedoch erlosch es schlagartig wieder, als er ihrer ansichtig wurde, sodass Kate sich schon beunruhigt fragte, was an ihr verkehrt war, dass seine leuchtend blauen Augen mit einem Mal einen so offensichtlich missbilligenden Ausdruck annahmen.
Ethan Flett traute seinen Augen nicht, als er Kate eintreten sah. Hatte er nicht gedacht, eine solide Frau reiferen Alters mit einem
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