Bianca Exklusiv Band 232 (German Edition)
sich trug und den er nie vergessen würde. Durfte er es zulassen, dass er erneut in eine Suche hineingezogen wurde? Oder sollte er die Frage nicht ganz anders formulieren: Wie konnte er Hilfe verweigern, wenn es auch nur eine kleine Chance gab, den Jungen zu finden?
„Eigentlich steckte keine Absicht dahinter“, antwortete Sara, „aber als mir bewusst wurde, dass ich Mikes Foto auf dem Billardtisch liegen gelassen hatte, hoffte ich natürlich, dass das Bild Sie dazu bewegen würde, die Angelegenheit noch einmal zu überdenken.“
Er nahm das Bild aus seiner Hemdtasche. „Der Junge hat Ihre Augen- und Haarfarbe. Ich nehme an, es ist Ihr Sohn.“
„Nein, es ist mein Neffe. Meine Schwester Meg und ihr Mann Lenny sind die Eltern. Meg ist blond, so wie ich.“
„Ich verstehe. Wie lange wird Mike schon vermisst?“
Sara strich sich nachdenklich das Haar aus dem Gesicht. „Genau weiß ich das nicht.“
Ihre Worte überraschten ihn. „Also gut, lassen Sie mich das anders fragen: Ist er nicht mehr von der Schule oder von irgendeinem anderen Ort zurückgekehrt? Sind die Eltern nach Hause gekommen, und er war verschwunden? Ist Mike unglücklich? Ist er vielleicht ein Ausreißer? Mit zwölf Jahren sind Kinder fast schon zu alt, um von einem Fremden entführt zu werden, obwohl das natürlich nicht unmöglich ist.“
Kincaid kreuzte seine langen Beine. Es musste eine Vorgeschichte geben. Es gab immer eine Vorgeschichte. „Vielleicht fangen Sie ganz von vorne an.“
„Ich werde es versuchen.“ Sara schaute auf den Papierbecher in ihren Händen und fand es ziemlich schwierig nachzudenken, während Kincaid sie mit seinen wachen, intelligenten Augen betrachtete. „Meine Schwester rief mich am Sonntag an und erzählte mir, dass sie sich Sorgen machte. Den Tag zuvor hatte sie einige Dinge zu erledigen, und als sie nach Hause kam, lag ein Zettel von ihrem Ehemann auf dem Tisch, auf dem stand, dass er Mike auf einen Überraschungstrip mitgenommen hätte, um seinen Grundschulabschluss und den Übergang auf die Junior Highschool im Herbst zu feiern. Freitag war der letzte Schultag in der Grundschule für Mike gewesen.“
„Macht Lenny das oft? Ich meine, solche Überraschungstrips ?“
„Nun, ich weiß, dass Lenny sehr impulsiv ist. Im letzten Sommer hat er ein kleines Vermögen für eine Angelausrüstung und für ein Zelt bezahlt, um mit Mike am Roosevelt Lake angeln zu gehen. Meg war nicht mit von der Partie, Lenny hat sie schlicht zuhause sitzen lassen. Sie war ziemlich wütend auf ihn. Also hat er ihr einen neuen Flachbildschirm für den Fernseher und einen Videorekorder gekauft.“
Der Typ scheint ziemlich verantwortungslos zu sein, dachte Kincaid. Er war kein gutes Vorbild für seinen Sohn. „Haben Mikes Eltern denn so viel Geld?“
Sara seufzte. Es war ihr peinlich, etwas derart Intimes von ihrer Familie preiszugeben. Aber sie hatte sich bereits seit einiger Zeit über Mikes Familienleben Sorgen gemacht. Außerdem überlegte sie immer wieder, was Lenny dazu bewegt haben könnte, mit Mike ohne Vorankündigung einfach so wegzufahren. „Ich weiß es nicht genau“, erwiderte sie ehrlich.
„Nun, viel wissen Sie ja in der Tat nicht“, meinte er etwas sarkastisch. Wann würde die Lady endlich beginnen, ihm die Wahrheit zu sagen? Kincaid betrachtete sie. Sie zerpflückte mit den Händen nervös eine Papierserviette und vermied es, ihn anzusehen. Menschen, die einem nicht in die Augen schauen konnten, hatten normalerweise etwas zu verbergen.
„Vielleicht sollte ich noch weiter ausholen und Ihnen etwas über die Vergangenheit erzählen. Unsere Eltern wurden bei einem Verkehrsunfall getötet, als ich erst zwölf und Meg einundzwanzig Jahre gewesen war. Meg hatte damals gerade das College abgeschlossen, und wir und meine Eltern befanden uns auf dem Weg von der Abschlussfeier nach Hause, als ein betrunkener Fahrer in unseren Wagen hineinfuhr. Mom und Dad waren auf der Stelle tot, und ich lag einige Wochen im Krankenhaus. Ich konnte noch nicht einmal zur Beerdigung gehen. Nach meiner Entlassung übernahm Meg die Rolle meiner Eltern und richtete ihr ganzes Leben auf mich aus, um für mich sorgen zu können. Ich verdanke ihr viel.“
Deshalb ist es ihr so wichtig, dass ihre Schwester ihren Sohn zurückbekommt, dachte Kincaid. „Hat Meg arbeiten müssen, oder bekamen Sie Geld von einer Lebensversicherung?“ Er musste sich unbedingt einen Eindruck von dieser Familie verschaffen.
„Beides.“ Sara entspannte sich
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