Bianca Exklusiv Band 87
Du bist unsere einzige Hoffnung, dass wir aus dem Lande kommen, Liebes. Ich schwöre dir, das ist das Letzte, um was ich dich bitte! Fahr zur Insel rüber und nimm meinen Platz ein. Bleib im Zimmer und stell dich krank.”
„Wie bitte?” Lucy traute ihren Ohren nicht. „Die merken doch sofort, dass …”
„Nicht, wenn du die Jalousien schließt und kein Licht im Zimmer machst. Bitte, Lucy, du schaffst es! Du gehst in dem Palazzo bis ganz nach oben, dann den schmalen gelben Korridor entlang und um die Ecke herum. Mein Zimmer liegt direkt unter dem Dach. Es ist eine ziemlich armselige Zelle.”
„Aber …”
„Hör zu! Renzo verschwindet öfters für einige Tage, aber wenn sie merken, dass ich auch fort bin … Ach, Lucy, du kannst dir gar nicht vorstellen, was für Angst ich ausstehe! Renzo hat etwas Geld aus dem Safe in Mazzardis Büro nehmen müssen, weil sein Bruder ihm nichts gibt. Und so, wie dieser schreckliche Mensch mich einschätzt, wird er mir die Schuld in die Schuhe schieben. Wir müssen untertauchen. Verzeih mir, aber wir haben beide Angst vor Mazzardi.”
„Um wie viel geht es denn da?”
„Um Tausende. Halte Mazzardi so lange wie möglich hin. Hilf mir!” Damit war die Verbindung unterbrochen.
Lucy fiel der Hörer aus der Hand. Ihr einziger Gedanke galt ihrer Schwester und den Eltern daheim. Wenn Lionel erfuhr, was seine goldige, süße Selina angestellt hatte, würde ihn der Schlag treffen. Lucy stöhnte auf. Ob sie wollte oder nicht, sie musste zur Insel hinüber, und sei es nur, um sich Kleidung zum Wechseln zu besorgen.
Lucy hob die verstreuten Münzen auf und zählte sie rasch. Elfhundert Lire. Würde das für die Überfahrt reichen?
Wenige Minuten später huschte Lucy über einen schwach beleuchteten Pfad zu dem kleinen Anlegesteg.
„Mazzardi”, sagte sie und schob die Münzen über den Fahrkartenschalter. „Zur Insel.”
„Semplice.”
„Wie bitte?”
„Ohne Rückfahrt.” Der Mann schien an verwirrte Touristen gewöhnt zu sein und kritzelte eine Zahl auf ein Papier.
Lucy war immer noch so benommen, dass sie einen Augenblick brauchte, ehe ihr klar wurde, dass ihr Geld nur für die Hinfahrt reichte. Sie zögerte kurz, dann nickte sie. Selina hatte sicher etwas Geld in ihrem Zimmer. Lucy betete im Stillen, dass es so war, denn wie sollte sie die Insel sonst wieder verlassen?
Lucy erwachte, weil ihr jemand laut ins Ohr sang. Verschlafen strich sie sich das Haar aus dem Gesicht und setzte sich auf. Sie suchte nach der Quelle des Gesangs und stellte fest, dass er aus einem Radiowecker neben dem Bett kam. Lucy wollte verhindern, dass der Lärm das ganze Haus weckte, und suchte hastig nach denn Ausschaltknopf.
Verflixt! Die Beschriftung war italienisch.
Die Stimme des Tenors füllte den kleinen, kärglich eingerichteten Raum. Lucy drückte auf alle Knöpfe und Tasten, die sie erkennen konnte, aber das tragische Lied hörte nicht auf.
Resigniert ließ sie sich auf das Kissen zurücksinken. In diesem Land ging alles schief!
Sie blickte auf die Uhr. Viertel nach sieben. Lucy fragte sich, wie oft Selina, die wie ein Murmeltier schlief, zu spät zur Arbeit gekommen sein mochte, ehe sie sich den Radiowecker kaufte.
Zu Lucys Erleichterung schien niemand an dem schmelzenden Gesang des Tenors Anstoß zu nehmen, denn es rührte sich nichts. Vielleicht kam das daher, dass das Zimmer abseits des Geschehens lag. Es befand sich seitlich unter dem Dach, war eng und niedrig und hatte ein winziges, uraltes Badezimmer. Mazzardi schien nichts davon zu halten, seinen Angestellten anständige Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Lucy blickte sich in dem schwachen Licht um, das durch die brüchigen Jalousien hereinfiel. So eine Art von Behausung war Selina nicht gewöhnt.
Wie überall, wo ihre Schwester auftauchte, herrschte auch hier ein Chaos. Kleider und Schuhe lagen überall verstreut, wo Selina sie fallen gelassen hatte, aus offenen Schubladen quoll Unterwäsche, und vor einem kleinen Spiegel waren Make-up-Utensilien verstreut.
Lucy seufzte. Wie sollte sie Selina in der kurzen Zeit helfen, die ihr hier blieb? Im Augenblick konnte sie überhaupt nichts tun. Heute musste sie wohl oder übel im Zimmer bleiben, ganz gleich wie es hier aussah. Das Radio spielte jetzt ein zartes Liebeslied, und Lucy verzichtete darauf, es auszuschalten.
Aber wenigstens die Jalousien würde sie öffnen, um die Sonne hereinzulassen.
Lucy schlug die Decke zurück und ging zum Fenster. Es war ein
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