Bibel der Toten
dass die exzentrische Gegensätzlichkeit Indochinas keine Grenzen kannte. Vang Vieng, in einem atemberaubend schönen alten Tal gelegen, war eine hässliche moderne Betonstadt, in der Hedonismus, Kommunismus, Kapitalismus und Buddhismus ungepuffert aufeinanderprallten.
Er war inzwischen drei Tage hier, um Fotos für einen Bildband über die landschaftlichen Schönheiten Südostasiens zu machen. Es war ein ziemlich großer Auftrag, aber jetzt stand er kurz vor seinem Abschluss. Sie hatten die obligatorische Thailand-Tour absolviert, waren zwei Wochen durch Vietnam gereist und hatten auch schon die Halong-Bucht im Kasten.
Zu ihrem letzten Reiseabschnitt, der sie durch Laos führte, gehörten Luang Prabang, weiter flussaufwärts, und Vang Vieng hier unten. Sie waren von Luang nach Vang Vieng geflogen und würden am nächsten Morgen mit dem Taxi in die laotische Hauptstadt Vientiane fahren. Von dort wollten sie den Flieger nach Phnom Penh in Kambodscha nehmen, wo Jake eine Wohnung hatte.
Nur noch ein Tag. Dann hieß es – o große Freude – Rechnungen schreiben.
Der Auftrag hatte ihn zwar nicht gerade vom Hocker gerissen, aber andererseits gab es für Fotografen längst nicht mehr so viele interessante Aufträge. Das hatte sich in den letzten Jahren drastisch geändert. Jake arbeitete schon zehn Jahre als Fotograf, aber das hieß nicht, dass das Geschäft besser lief, eher sogar zäher. Die Scharen knipswütiger Amateure mit ihren Handykameras und dazu die bedienerfreundliche, narrensichere Technik: Autofokus, Photoshop und was es sonst noch alles gab. Damit gelangen jedem ein paar brauchbare Schnappschüsse. Buchstäblich jedem. Mit ein bisschen Glück bekam irgendein Volltrottel mit einem Nokia-Handy einen ganz passablen Robert Capa hin.
Unter moralischen oder philosophischen Gesichtspunkten betrachtet, hatte Jake nichts gegen diese Demokratisierung seiner »Kunstform«. Die Fotografie war immer schon die volkstümlichste Kunst gewesen, so man sie denn überhaupt als Kunst bezeichnen konnte. Soll ruhig jeder mitmachen. Soll es ruhig jeder probieren. Und viel Glück auch.
Schmerzlich war diese Entwicklung aus rein persönlichen Gründen. Sie hatte schlicht und einfach zur Folge, dass ihm die Geschäftsgrundlage entzogen wurde. Und der einzige Ausweg aus diesem Dilemma war, dass er entweder Kriegsberichterstatter wurde und entsprechend mutig oder waghalsig und Fotos machte, die kein Zivilist je zustande brächte – und in diese Richtung tendierte er mehr und mehr –, oder dass er langweilige und wenig Kreativität erfordernde, aber bequeme kommerzielle Aufträge annahm: zum Beispiel Bildbände über die landschaftlichen Schönheiten Südostasiens, bei denen man den Flug bezahlt bekam, in anständigen Hotels übernachtete und richtige Toiletten anstelle von Plumpsklos hatte – und bei denen man trotzdem etwas von der Welt sah, was schließlich einer der Hauptgründe gewesen war, weshalb er ursprünglich unter die knipsende Zunft gegangen war.
Er trank sein Red Bull aus, warf die leere Dose in einen Müllsack am Straßenrand und machte sich wieder an die Arbeit.
Fotografieren.
Er schlenderte die beschauliche Hauptstraße von Vang Vieng hinunter, deren Holz- und Betonbauten im warmen Abendlicht zu glühen schienen. Ein Blick nach rechts ließ ihn stehen bleiben, und nach kurzer Einschätzung des Motivs machte er mehrere Fotos der von einem Teakholzhaus und einer windschiefen Bierbude eingerahmten Flusslandschaft.
Es war ein vorhersehbarer Blick auf die spektakulären Karstberge auf der anderen Seite des in der Abendsonne golden glänzenden Nam-Song-Flusses. Lange, schlanke Motorboote flitzten über das träge dahinströmende Wasser und wirbelten weiße Gockelschwänze aus Gischt auf, die im flach einfallenden Licht der über den Pha-Daeng-Bergen untergehenden Sonne von innen heraus zu leuchten schienen.
Ungeachtet seiner Vorhersehbarkeit war der Blick dennoch großartig. Und das war es schließlich, was die Leute in diesen Bildbänden sehen wollten. Atemberaubende Fotos von tropischpittoresken Landschaften! Und dazu ein paar freundlich dreinschauende Einheimische mit komischen Hüten! Was wollte er mehr?
Klick. Eine Aufnahme auf Vorrat. Klick. Eine Aufnahme auf Vorrat. Klick. Die war gut. Er schaute auf den Kameradisplay. Nein, doch nicht. Jake seufzte. Das war sein letzter Arbeitstag, und wer weiß, wann er das nächste Mal einen Dollar oder Kip oder Baht oder Dong verdienen würde?
Vielleicht hätte er
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