Bibel der Toten
Mittelalter, der nach einer durchzechten Nacht durch das Einstiegsloch gestürzt war. Vielleicht war es die Leiche eines Protestanten, der im 18. Jahrhundert vor dem Kamisardenkrieg geflohen war. Wahrscheinlicher war jedoch, dass der Schädel aus dem Neolithikum stammte. Genau das, was sie suchte.
Die Ablagerungen auf dem Höhlenboden stammten vorwiegend aus der Steinzeit. So viel stand bereits fest. Erst vor kurzem hatte sie ein winziges Fragment eines Stifts aus Antilopenknochen gefunden – aus der Zeit um 5000 v. Chr. Dieser Schädel musste aus derselben Epoche stammen.
Julias Hand zitterte vor Aufregung. Das war der mit Abstand beste Fund dieser unergiebigen Grabungssaison in den Höhlensystemen unter der Cham des Bondons. Ach was, das war der beste Fund ihrer ganzen unergiebigen archäologischen Karriere.
Sie bürstete und kratzte, um das Cranium schließlich mit der feinsten Kelle, ihrer kostbaren versilberten 10-cm-Kelle, ganz aus dem Boden zu lösen. Schon als sie die Erde beiseiteschob, merkte sie, dass an dem Schädel etwas eigenartig war.
Er hatte hoch oben in der Stirn ein Loch.
Julia streifte sich die Arbeitshandschuhe über und hob das Cranium in das weiße, schwächer werdende Licht ihrer Stirnlampe. Die Batterien würden nicht mehr lange halten, aber das war ihr jetzt egal. Das Ganze war einfach zu schön.
Die uralten Zähne schimmerten im matten Licht. Weiß und gelb. Und grinsend.
Eigentlich war ein beschädigtes Cranium nichts Ungewöhnliches. Julia hatte genügend Knochen gesehen, um zu wissen, dass man bei alten Funden mit Absplitterungen und Frakturen rechnen musste; in der ausgehenden Eiszeit hatte Homo sapiens erbittert um sein Überleben kämpfen müssen, mit Höhlenbären und Vielfraßen, mit Leoparden und Hyänen. Da waren schwere Verletzungen an der Tagesordnung: von der Jagd, von Stürzen beim Klettern, von Steinschlag.
Doch dieses Loch im Kopf war von Menschenhand gemacht worden. Nicht unbedingt in der Absicht, den Besitzer des Schädels zu töten, aber ganz gezielt in den Knochen gebohrt.
Julia legte den Schädel auf den Höhlenboden und machte sich ein paar Notizen. Zweifellos handelte es sich hier um einen Fall von steinzeitlicher Lobotomie, einen chirurgischen Eingriff, bei dem der Schädel eines lebenden Menschen aufgebohrt – oder »trepaniert« – wurde, um ein Stück seines Gehirns freizulegen.
Für solche Trepanationen, die als die frühesten bekannten chirurgischen Eingriffe gelten, gab es zahlreiche wissenschaftliche Belege, und die Museen waren voll von Exemplaren aus der Zeit um 5000 v. Chr., aus der vermutlich auch dieser Schädel stammte.
Aber niemand konnte bisher mit einer einleuchtenden Erklärung aufwarten, warum die Steinzeitmenschen so etwas getan hatten. Deshalb war diese Entdeckung eine kleine Sensation.
Ein Geräusch riss Julia aus ihren Gedanken. Sie legte das Notizbuch auf den Boden und spähte angespannt in das Dunkel hinter dem schwachen Lichtkegel ihrer Stirnlampe; um sie herum tanzten die Schatten der Höhle.
»Hallo?«, rief sie in das Dunkel hinein.
Stille.
»Hallo? Ghislain? Annika?« Stille. »Alex?«
Die Stille war fast total. Nur das ferne Pfeifen des Winds oben auf der Cham antwortete auf ihre Frage.
Hier unten war niemand. Niemand außer Julia Kerrigan, vierunddreißig Jahre alt, alleinstehend, kinderlos, mit einem Abschluss an der Universität Montreal und einer antistatischen Pinzette – nur sie und dieser namenlose menschliche Schädel. Und vielleicht eine Ratte.
Julia wandte sich wieder ihrem Fund zu. Noch zwei Stunden, dann wäre ihr Arbeitstag zu Ende. Und inzwischen freute sie sich richtig auf das abendliche Treffen, wenn die Archäologen, wie gewohnt, in der kleinen Brasserie Stevenson in Pont de Montvert zusammenkamen, um über die Funde des Tages zu sprechen – dieser Abend würde bestimmt nicht langweilig werden. Ganz beiläufig würde sie ihrem salbungsvollen Grabungsleiter gegenüber fallen lassen: Ach übrigens, Ghislain, ich habe einen Schädel gefunden. Trepaniert. Aus dem Neolithikum, glaube ich.
Ihr Chef würde strahlen vor Begeisterung und ihr gratulieren, und ihre Freunde würden grinsen und sich freuen und mit Côte du Rhône auf ihren Erfolg anstoßen, und dann würde sie ihre Eltern zu Hause in Marysville anrufen und ihnen endlich begreiflich machen können, warum sie nach Europa gegangen war. Warum sie immer noch nicht nach Hause kam. Weil ihre eigensinnigen Ambitionen endlich doch von Erfolg gekrönt
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