Das Teekomplott - Ostfrieslandkrimi
1
Jan Scherrmann legte seine rechte
Hand über die Augen, um sie vor den grellen Strahlen der Sonne zu schützen. Es
war ein brütend heißer Spätsommertag, wie man ihn hier oben an der Küste nur
selten erlebte. Zum Glück aber wehte ein frischer Wind von See her und
verschaffte ihm mit jeder Böe, die ihm in unregelmäßigen Abständen über die
verschwitzte Haut strich, eine erfrischende, wenn auch nur kurze Abkühlung.
Prüfend ließ er seinen Blick die
Straße hinunter gleiten. Beim Anblick der spielenden Kinder, die johlend und
jauchzend immer wieder durch das kühle Nass eines Rasensprengers hüpften, der
ganz offensichtlich einzig zu diesem Zweck aufgestellt worden war, flog ein
Lächeln über sein Gesicht. Er liebte dieses Idyll, das der kleine Ort an jedem
einzelnen Tag des Jahres ausstrahlte. Canhusen. Für die Kinder, die das Glück
hatten hier aufzuwachsen, musste es das Paradies sein. Hier schien die Zeit
stillzustehen. Scherrmann konnte sich gut vorstellen, dass sich hier in den
vergangenen Jahrzehnten kaum etwas verändert hatte. Das war ihm auch von den
Einheimischen bestätigt worden. Canhusen war und blieb Canhusen. In dem kleinen
Dorf unweit von Emden war schon seit bestimmt zwei Generationen kein Baugebiet
mehr ausgewiesen worden, nur hier und da hatte mal ein älteres Haus, dessen
Bewohner verstorben waren, einem neuen weichen müssen. Gut ein Dutzend roter
Klinkerhäuser scharrte sich um die kleine, jahrhundertealte Kirche, die im Zentrum
des Ortes erhöht auf einer Warf stand und deren kleiner Glockenturm auf dem
Dach wie ein gespitzter Bleistift in den blauen Himmel stach. Ergänzend zu
diesem Ortskern gab es links der Einfallstraße nach Canhusen die im Volksmund
„Alte Siedlung“ genannte Straße Am Düsterland sowie ein paar hundert
Meter weiter Richtung Ortsmitte die „Neue Siedlung“, die gemäß ihrem
Baumbestand den Namen Pappelallee erhalten hatte.
Jan Scherrmann lebte erst seit
wenigen Monaten in Canhusen, er war ein Zugezogener, kam nicht mal aus
Ostfriesland, sondern aus dem fernen Dortmund. Entsprechend kritisch war er von
seinen neuen Nachbarn beäugt worden. Es kam nur äußerst selten vor, dass sich
jemand von Außerhalb in diesen Ort verirrte, von dessen Existenz selbst
alteingesessene Ostfriesen häufig keine Ahnung hatten .
Denn an Canhusen führten eigentlich alle Wege vorbei. Wer hier nicht ganz
gezielt etwas zu tun hatte, der nahm das Dorf von der in einigen hundert Metern
vorbeiführenden Landstraße aus gar nicht wahr. Und was sollte man in Canhusen
schon zu tun haben? Außer Idylle gab es hier wahrlich nichts. Hier wohnte man.
Sonst nichts. Arbeit vor Ort hatten lediglich drei Landwirte, was dazu führte,
das Canhusen schon immer deutlich mehr Kühen ein Zuhause gab als Menschen. Ja, der
kleine Ort war ein idyllisches Kleinod inmitten der hektischen Realität. Hier
passierte nichts, rein gar nichts.
„Moin“, hörte Scherrmann einen
etwas maulend klingenden Gruß hinter sich und drehte sich um. „Moin“, grüßte er
zurück und fügte hinzu: „Na, Amelie, heute wieder Langeweile?“
Das fünfzehnjährige Mädchen
starrte ihn mit vor dem Körper verschränkten Armen mürrisch an und nickte
schwach. „Scheiß Kaff“, murmelte sie vor sich hin und ging dann mit hängendem Kopf
wieder ihrer Wege. Scherrmann nickte wissend. Ja, für so manchen Jugendlichen
war Canhusen nicht das Paradies, sondern die Hölle. Amelie war zweifelsohne aus
dem Alter raus, in dem sie sich mit den anderen Kindern unter einem
Rasensprenger vergnügte. Sie brauchte anderweitige Beschäftigung. Aber die gab
es in Canhusen nicht. Und noch etwas gab es in Canhusen nicht: Einen Bus. Kein
öffentliches Verkehrsmittel stand zur Verfügung, um Mädchen wie Amelie zum
Beispiel in die Stadt zu fahren, wo sie sich mit Freunden treffen oder shoppen
gehen konnten. Nein, wenn Amelie irgendwo hin wollte, musste sie das Fahrrad
nehmen oder sich von ihren Eltern chauffieren lassen. Was diese, angesichts von
weiteren drei Kindern, jedoch kategorisch ablehnten. Also saß Amelie hier fest,
wollte sie nicht nach der Schule, zu der sie an jedem Morgen und an jedem
Mittag bereits mit dem Fahrrad nach Emden fuhr, nochmals mehrere Kilometer bei
Wind und Wetter durch die Gegend radeln. Ja, für Amelie war es nach einer
wunderbaren Kindheit inzwischen eine echte Strafe, in diesem Dorf zu wohnen.
Während sich ihre Altersgenossen in der Stadt trafen, musste sie meistens
absagen und saß dann, gerade abends,
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