Bienensterben: Roman (German Edition)
hatte. Davonlaufen kam aus naheliegenden Gründen nicht infrage, Schreien noch weniger. Es gab nur Robert T. Macdonald und mich.
»Was hast du hier zu suchen, du Schuft?«
Ich schlug mein Buch zu, und ein anderer Leser blickte ärgerlich von seiner Zeitung auf.
»Ich will losfahren und sie suchen«, sagte er plötzlich. »Und du sollst mitkommen.«
»Draußen«, flüsterte ich.
Mein Herz raste. Er zog die Schlinge um unseren Hals enger. Ich spürte es.
»Das werde ich nicht«, sagte ich zu ihm.
»Warum nicht?«, fragte er.
Ich musste mir eine Antwort überlegen. Irgendeine Antwort.
»Weil es mich nicht interessiert, wo sie ist«, brachte ich hervor.
»Rede mit Marnie. Ich bin der Meinung, ihr solltet beide mitkommen. Zusammen werden wir sie finden. Das weiß ich genau.«
Er wirkte verzweifelt.
»Ich gehe jetzt nach Hause«, sagte ich. Ich musste fort von ihm.
»Nach Hause? Zu Homo-Lennie, ja? Wie kannst du nur! Die Bibel sagt, es ist nicht richtig.«
»Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du solche Bemerkungen in Zukunft für dich behieltest«, flüsterte ich.
»Wenn ich meine Tochter nicht finde, wird sich hier einiges ändern. Du packst also besser schnell deinen Koffer. Ich habe es satt, mit dir Hasch-mich zu spielen, und das gilt für deine Schwester genauso.«
Damit ging er und ließ mich allein auf der Treppe stehen, und ich muss sagen, mir wurde schon recht mulmig zumute.
Marnie
Vlado schlägt vor, dass wir eine Radtour machen. »Das hält fit und ordnet die Gedanken«, sagt er.
Soll heißen: Dann muss ich nicht dauernd an Kirkland denken. Okay, sag ich, und nehm das Fahrrad von Gene. Kann man sich kaum vorstellen, dass der ein Fahrrad hatte, aber dass er es geklaut hat, kann man sich problemlos vorstellen.
Es ist ein heißer Sommertag, deshalb ist keiner auf Ärger aus, nur auf ein paar Sonnenstrahlen, vielleicht ein bisschen Bräune, das wird ja dann meistens rot, und dann steht vorn auf dem Daily Record irgendeine Horrorschlagzeile über Sonnenbrand, und manchmal Krebs. Wenn man auf dem Fahrrad vorbeifährt, checken einen die Jungs zwar kurz ab und manchmal pfeift auch einer, aber so alles in allem wird ein Mädchen auf einem Fahrrad nicht groß beachtet, die meisten wollen nur ihre Ruhe und sich ein bisschen sonnen. Sich auf den Rasen lümmeln und Musik hören. Sie wollen die Planschbecken für die ganz Kleinen rausholen und mit ihren Babys und Freundinnen zusammensitzen, und manche wollen auch Wäsche waschen, aber am meisten wollen sie Liebe. Sonnenschein und Knutschen sind einfach die perfekte Kombi, genauso wie Vögeln unter einer Decke, und im Winter laufen dann massenweise Mädchen mit dicken Bäuchen rum. Die Glasgower brauchen keinen dunklen Club, um einen draufzumachen oder einen hochzukriegen; und hinterher gibt’s dann Arbeit für Lehrer und Rechtsanwälte, manchmal auch für die Richter.
Fish and Chips und Eis sind genau das Richtige für so einen Tag wie heute, und wenn man was auf sich hält, macht man ein Barbecue. Gene hat es einmal versucht und hätte dabei fast das Haus abgefackelt. Ich war noch nie bei einem richtigen dabei, aber das soll der Hammer sein. Lennie macht heute Abend eins. Bin gespannt wie ein Flitzebogen.
Schließlich kommen wir dann in dem Pub an, und Vlado bestellt mir eine Cola. Für sich bestellt er ein Guinness, und er weiß alles Mögliche darüber, weil er ja sogar schon in Dublin war.
Ich merke, dass er mit mir über irgendwas Ernstes reden will, aber er lässt es dann doch und erzählt mir lieber von seiner Tochter.
»Weißt du, dass Sabina unheimlich gern Fahrrad gefahren ist?«
»Machen doch alle Mädchen. Gibt ’nen schönen Knackarsch.«
Er lacht.
Als wir auf dem Rasen sitzen, starren mich die Frauen um uns herum an. Die halten uns bestimmt für Vater und Tochter. Ich bin stolz und wünsch mir, es wäre so.
»Überall ist sie mit dem Fahrrad hin«, erzählt er weiter. »Schon als ganz kleines Mädchen, ich seh noch ihre kleinen Beinchen auf den Pedalen. Durchs ganze Haus ist sie gesaust, über die Fußböden geschrappt und gegen Wände gedonnert. Manchmal hat sie nach mir gerufen, damit ich sie anschiebe, am liebsten wäre sie den ganzen Tag lang angeschoben worden, aber das ging nicht und ich sagte: ›Nein, Sabina, genug jetzt‹, und da hat sie geweint. Wenn ein Kind stirbt, dauert es lange, bis man sich wieder daran erinnert, was man alles Gutes für es getan hat. Manchmal denke ich, wenn sie an jenem Tag mit dem Rad zur Schule
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