Big U
übermüdet, daß sie kaum stehen, geschweige denn die Tageszeit würdigen konnten. Etwa ein Dutzend Sportfanatiker standen ebenso früh auf wie Sarah; wenn sie einander begegneten, nickten sie ihr fröhlich zu und gingen ihrer Wege. Um vier Uhr wach zu sein war wie ein Ausflug in die Wildnis. Näher konnte man der Außenwelt nicht mehr kommen, ohne den Plex zu verlassen. Den Rest des Tages wurde die Atmosphäre der gesamten Anlage von einer schroffen Künstlichkeit und den verblödeten Bewohnern beherrscht, doch die verklärte Reinheit vor dem Morgengrauen drang förmlich durch die Schlackesteinmauern und erfüllte die Räumlichkeiten rund eine Stunde lang.
»Scheiß auf die Wäsche«, sagte sie schließlich. Sie hatte jede Menge saubere Klamotten.
Sie kniete mitten in weißen Baumwollsachen, als ihr auffiel, wie trostlos grau in grau ihr Zimmer war. Plötzlich konnte sie das nicht mehr ertragen. Wäsche würde das Aussehen des Zimmers nicht verbessern, sie mußte etwas unternehmen, das es verbesserte.
Draußen im Flügel war es nicht schwer, Farbreste und Pinsel zu finden. An die Luftschloß-Gemälde wurde gerade letzte Hand angelegt. Sie fand die Sachen in einem Lagerraum und brachte sie in ihr Zimmer.
Normalerweise hätte sie den Vorgang schnell und mit viel Kleckern hinter sich gebracht, aber die Atmosphäre um vier Uhr morgens hatte sie gelassen gemacht. Sie rückte die Möbelstücke von den Wänden weg und hatte Boden, Tür, Fenster und Möbel binnen weniger Minuten mit einer Sonntagsausgabe der New York Times abgedeckt. Schon jetzt sah es besser aus.
Das Luftschloß hatte, wie später beschrieben werden soll, eine ekelhafte gelbe Farbe und schwebte auf weißen Wolken an einem blauen Himmel. Sie brachte einen weichen Beigeton zustande, indem sie Wolkenfarbe mit Schloßfarbe und ein klein wenig Bambifarbe mischte (auf dem Boden unter dem Schloß grasten Bambis). Diese Farbe trug sie mit einer Walze auf den Wänden auf.
Es war Frühstückszeit. Sie hatte keinen Hunger.
Himmelsfarbe und Schloßfarbe ergaben grün. Sie riß einen Pappkarton auf und machte eine riesige Palette daraus, auf der sie jeden erdenklichen Grünton mischte, der ihr einfiel; diese Töne verschmierte sie dann und schuf so eine unendliche Vielfalt. Dann tupfte sie ohne bestimmten Plan oder Ziel einfach so auf den Wänden herum.
Der Lichtschalter befand sich mitten an der Wand. Sie verweilte kurz und dachte an die schlimmen Konsequenzen, dann seufzte sie voll Wonne und übermalte ihn mit dicken grünen Schlieren.
Um die Mittagszeit war die ganze Wand mit grünlichen Flecken bedeckt, deren Spektrum von gelb bis fast schwarz reichte. Keine schlechte Impression eines Waldes in der Sonne, aber es fehlten die feinen Details und die Zweige.
Sie hatte längst beschlossen, sämtliche Vorlesungen zu schwänzen. Als sie ihr Zimmer zum ersten Mal seit Sonnenaufgang verließ, fuhr sie mit den Fahrstühlen zum Einkaufszentrum. Sie fühlte sich blendend.
»Am Anstreichen, ja?« fragte eine rehäugige Frau in Leggins. Die über und über mit Farbe bekleckerte Sarah nickte strahlend.
»Dein Zimmer?«
»Jau.«
»Klar. Haben wir auch. Wir haben unseres total high-tech gestrichen. Jede Menge Neonfarben. Und wie isses bei dir? ’ne Menge Grün?«
»Na klar«, sagte Sarah, »es soll aussehen wie die freie Natur. Damit ich sie nicht vergesse.«
Bei Sears im Einkaufszentrum besorgte sie sich mattschwarze Farbe und kleinere Pinsel. Sie ging in ihr Zimmer zurück und kam unterwegs an der Mensa vorbei, wo Tausende für etwas anstanden, das nach Zwiebeln und Salz und heißem Fett roch. Sarah hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen und fühlte sich großartig – es war ein Fastentag. In ihrem Zimmer zog sie eine Seite der Times weg, auf der über einen Staatsstreich in Afrika berichtet wurde, setzte sich auf das Bett und betrachtete ihren Wald. Viel besser als die alte Wand, aber immer noch bloß ein grober Anfang – jeder Farbtupfer mußte in hundert verschiedene Schattierungen unterteilt und mit einem Netzwerk schwarzer Ästchen durchzogen werden, die allem Halt gaben. Sie wußte, sie würde nie damit fertig werden, aber das war prima. Genau darum ging es ja.
Casimir machte sich unverzüglich ans Werk. Seinen Plan hatte er in Tagträumen längst umgesetzt, daher dauerte es nicht lange, die ersten Phasen von Projekt Spike in die Tat umzusetzen. Da Sharon nun ganz und gar in ein Koma gefallen war, hatte Casimir das Labor des alten Professors
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