BIGHEAD - Ein brutaler, obzöner Thriller (German Edition)
Abenddämmerung den Horizont berührten. Und ja, Charitys frühere Feststellung bewahrheitete sich. Sie war heute Morgen um fünf Uhr aufgestanden, um D.C. um sechs zu verlassen, hatte über neun Stunden mit Jerrica in dem kleinen Wagen gesessen, und doch fühlte sie sich nicht im Geringsten müde. Vielmehr fühlte sie sich belebt, als hätte sie eine Injektion mit frischem Schwung erhalten. Sie vermutete, dass es mehrere Ursachen hatte: die frische Landluft statt des Smogs, die gewaltige Weite der Felder und Wälder, die nirgends von Wolkenkratzern unterbrochen wurde, und die immer wieder neu erwachenden Kindheitserinnerungen.
»Okay, du bist hier zu Hause, Charity«, sagte Jerrica. »In welcher Richtung kommen wir in die Stadt?«
»Luntville ist eigentlich keine Stadt, jedenfalls nicht das, was du darunter verstehst. Nur ein paar alte, kleine Häuser entlang der Durchgangsstraße und an den Nebenstraßen. Es gibt allerdings so etwas wie eine Hauptgeschäftsstraße – die Main Street, ob du’s glaubst oder nicht. Fahr einfach weiter und wenn du die weiße Kirche siehst, biegst du links ab.« Charity ließ ihre Gedanken wandern, versuchte, nicht an die Welt, die hinter ihr lag, zu denken. Verwitterte Vogelscheuchen schienen sie von den endlosen Maisfeldern aus anzustarren. Weitere Felder mit wilden Kermesbeeren schimmerten im Sonnenuntergang und dahinter erkannte man auf sanften Hügeln die Silhouetten von blühendem Hartriegel, von Hainbuchen und Judenkirschen. Der Fahrtwind liebkoste ihr Gesicht wie sanfte, kühle Hände.
Trotz der Tragik dieser Gegend, trotz der sozialen Härte, mit der die Realität die Appalachen getroffen hatte, fühlte Charity, wie der Kern ihrer eigenen Probleme sich in Nichts aufzulösen begann. Ihr Verwaltungsjob, bei dem sie mit Glück eine Gehaltserhöhung auf 15.000 Dollar bekommen würde, die erstickende Stadt mit all ihrer Unpersönlichkeit und – vor allem – ihr absoluter Misserfolg mit Männern ... das alles lief normalerweise in ihren Gedanken Amok, doch nicht jetzt, nicht hier. Ich bin zu Hause, dachte sie stumpf, denn es war wie eine Abstumpfung. Aus der Stadt hierherzukommen, war wie der Übergang in eine andere Welt.
»Hier?«, fragte Jerrica.
Charity konzentrierte sich. Die weiße Fassade der St. Stephen’s Church näherte sich vor dem orangefarbenen Hintergrund des Sonnenuntergangs. »Ja«, sagte sie. »Bieg nach links auf die Old Chapel Road ab. Wenn du nach rechts fährst, landest du im Nirgendwo.«
Jerricas schlanker, gebräunter Arm bewegte sich geschickt, als sie herunterschaltete. Der Wagen ruckte leicht, der Motor drehte hoch. Sie fuhren in einer sanften Kurve an der Kirche vorbei und Charity spürte plötzlich einen Stich der Enttäuschung. St. Stephen’s Church, einst prächtig und strahlend weiß, war jetzt fast eine Ruine. Zeit und Vernachlässigung hatten ihre einst so makellose Farbe abblättern lassen. Die schönen, glitzernden Buntglasfenster waren entweder mit Brettern vernagelt oder zerbrochen, sodass man nur noch die angelaufenen Bleieinfassungen sah. Eine der Türen des Portals hing schief in den Angeln.
Sie haben sie verrotten lassen, dachte Charity. Es war eine traurige Erkenntnis; in ihrer Kindheit war die Kirche immer ein stolzes Wahrzeichen gewesen. Jetzt jedoch war sie nur noch ein Symbol für alles andere um sie herum. Dem Verfall überlassen, von der anhaltenden Rezession und Apathie blutleer gesaugt.
Jerrica kümmerte das nicht. »Diese Kirche – da fällt mir was ein. Deine Tante hat etwas von einem Priester gesagt, der bei ihr wohnen wird. Um Wroxeter Abbey wiederzueröffnen. Wirst du ...« Ihre Worte verloren sich, wurden sanfter. »Wirst du sie mir zeigen?«
»Was? Die Abtei?«
»Ja.« Jerricas blaue Augen verengten sich aufgeregt. »Ich würde sie so gerne sehen.«
»Ich bin mir sicher, dass es da nicht viel zu sehen gibt. Du hast Tante Annie gehört; sie ist schon vor Jahren geschlossen worden. Sie ist wahrscheinlich in einem noch schlechteren Zustand als die Kirche, an der wir gerade vorbeigekommen sind.«
Jerrica schaltete einen weiteren Gang herunter, während ihr Haar im Wind flatterte. »So? Ich möchte sie trotzdem gern sehen. Ich brauche sie für meinen Artikel. Komm schon. Lass uns hinfahren, jetzt gleich!«
»Ich weiß nicht einmal, wo sie liegt, Jerrica. Du vergisst, dass ich diese Gegend vor über 20 Jahren verlassen habe; ich weiß überhaupt nichts über diese Abtei, bis auf das, was Tante Annie erzählt hat.
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