Bilder Aus Dem Berliner Leben
die spärlich, in weiten Abständen noch hinzukamen, irrten wie suchend umher, ohne Boden zu finden. Es ist wirklich, als ob das verhängnisvolle Jahr die Grenzscheide bilde. Wir freilich, in der Dämmerung zwischen den Zeiten, konnten kein deutliches Bewußtsein haben, weder von dem, was darin untergehen, noch von dem, was sich daraus emporringen sollte. Viel später erst, im Rückblick, ist uns alles klar geworden.
Da geschah's auch einmal in jenen Tagen und bei Fuchs, daß der ältere Freund mir einen Mann zeigte, der in dem, nach Art eines Schweizerhäuschens eingerichtetenZimmer der Konditorei saß, dicht an der Tür. Er war unter einer großen Zeitung gleichsam verborgen, doch so, daß ich ihn von der Seite sehen konnte: die kurze, gedrungene Statur, das markige Gesicht, die mächtig hohe Stirn, die treuherzigen Augen, die Nase, der Mund stark ausgebildet, aber edel geformt, und Wangen, Kinn und Lippen von einem stattlichen Vollbart umrahmt. »Soll ich Sie ihm vorstellen?« fragte der Freund, »er ist ein Schweizer und heißt Gottfried Keller.« – Indem ich dies schreibe, sieht von der Wand herab sein Porträt, das Antlitz eines guten, ehrlichen Mannes, in welches zu blicken wohltut, als ob es einem die Versicherung von etwas Beständigem und Zuverlässigem gäbe. Der Ruhm hat keinen Zug darin verändert; älter geworden ist auch er, aber im innersten Wesen immer noch derselbe wie vor vierunddreißig Jahren, als ich ihm unter der Türe von Fuchs' Konditorei zum ersten Male die Hand gab. Er war ein Unberühmter damals, fast noch ein Unbekannter; aber in dem nämlichen Jahr, 1854, erschien sein »Grüner Heinrich«, und »Die Leute von Seldwyla« folgten zwei Jähre später; und wenn nicht alsbald die Welt, so wußte doch nun derjenige Teil derselben, der in solchen Dingen den Ausschlag gibt, wer Gottfried Keller sei. Viele Jahre vergingen; die Fuchs'sche Konditorei war von der Erde verschwunden und die kleine Keller-Gemeinde längst zu einer Universalkirche der deutschen Literatur geworden. Da gab die Begründung der »Deutschen Rundschau« den Anlaß einer erneuten Verbindung, welche nicht mehr unterbrochen worden ist: Was Keller seitdem geschaffen, das steht in den Blättern dieser Zeitschrift verzeichnet: die »Züricher Novellen«, »Das Sinngedicht«, »Martin Salander« sind ihr schönster Ehrenschmuck geworden, und mir bedeuten sie fast noch mehr. Mir erscheinen sie, wenn mein eigenes persönliches Empfinden hier in Betracht kommendarf, als Denkmale jener derben, in sich geschlossenen, ein wenig rauhen Schweizernatur, die nicht um den Beifall der Menge buhlt, aber, fest an der Vergangenheit hängend, keinen Gewinn so hoch schätzt, »als daß sie Treu erzeigen und Freundschaft halten kann«. Kein Mann der vielen Worte, schweigsam, einsilbig, mit etwas Granitnem gleich seinen Bergen und schwer in Fluß zu bringen. Aber manchmal, im Zwiegespräch, wie geht dieses Herz auf, und wie strömt die Rede dann aus den halb nur geöffneten Lippen, als ob sie noch immer Widerstand leisten wollten! »Es hat mich immer gekränkt«, sagt »der grüne Heinrich« einmal, »weil es keinen größeren Plauderer gibt als mich, wenn ich zutraulich bin. Ich habe aber bemerkt, daß viele Menschen, welche das große Wort führen, aus denen nie klug werden, welche ihretwegen nie zu Wort kommen; sie fassen dann ein ungünstiges Vorurteil sobald sie mit Schwatzen fertig sind und es still geworden ist.« In seinen Meinungen über Personen bestimmt, kritisiert er scharf und kurz, aber nicht bösartig, meist mehr kaustisch; und wiewohl seit einem Menschenalter auf die heimatliche Stadt am Zürichsee beschränkt, lebt er immerfort in den großen und allgemeinen Interessen der Gegenwart, wohl bewandert in all ihren Einzelheiten. Aber wenn man mit ihm durch die Straßen von Zürich wandert oder an den Ufern des Sees oder auf den benachbarten Höhen, dann fühlt man, wie fest er auf diesem Boden steht und wie seine Dichtung darin wurzelt. Einmal, an einem Sommernachmittag, als die Silberfirnen der fernen Alpen schon vom Niedergang der Sonne glühten und Vespergeläut aus der Stadt heraufklang, standen wir mit ihm auf dem Zürichberg; und! öfter noch, in der Abenddämmerung, vor Großmünster und Lindenhof und in einer der altertümlich winkligen Gassen vor dem Hause Rüdigers von Manesse – dies alles die Schauplätze seiner »ZüricherNovellen«. Und indem er langsam, ohne viel Aufhebens zu machen, von diesen Dingen sprach, mußte
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