Bilder Aus Dem Berliner Leben
voran, der furchtlose Geistliche, Dr. Sydow, den ich in seinen letzten Lebensjahren noch so gut gekannt und so manchmal gesehen habe, wenn er, auch in seinem hohen Alter noch eine imposante, ehrfurchtgebietende Erscheinung, mir gegenüber, auf dem Balkon seiner Wohnung am Matthäikirchplatz, ein schwarzes Käppchen auf dem Silberhaar, friedlich zwischen seinen Blumen saß und – am Tag des Herrn – andächtig dem Orgelklang und Choral lauschte, die aus der benachbarten Kirche so lieblich durch den Sonntagmorgen tönten. Damals, an jenem Märzmittage, war seine Stimme laut und gewaltig, als er diese Toten wie »Samenkörner der Zukunft« in die Erdesenkte; doch die Stimme ist verhallt, und still auch ist es hier geworden. Den Soldaten, welche die Opfer dieser unseligen Kämpfe wurden, ist ein Nationaldenkmal errichtet worden im Park der Invaliden; diese hier haben kein anderes Denkmal als halbeingesunkene Gräber und da und dort einen verwelkten Kranz. Und es ist gut so; denn was wäre zu sagen von der eisernen Notwendigkeit, welche den einen Ruhm und den andern nichts gewährt als Vergessenheit? »'s gibt Gräber, wo die Klage schweigt.« Ein immerwährendes Dunkel herrscht hier unter den dicht verschlungenen Zweigen, die selbst den Strahlen der Abendsonne den Zugang wehren und nur einen vereinzelten Tropfen des roten Lichts auf Kreuz oder Leichenstein versprengen. Denn ohne Unterschied der Konfession ruhen die Toten hier, meist Männer aus den niederen und mittleren Ständen, Arbeiter jeder Art, Maschinenarbeiter, Kattundrucker, Buchdrucker, Buchhalter – nicht wenige darunter, die den Anfang der Zwanzig kaum überschritten. Von vielen, die hier bestattet worden, waren die Namen nicht mehr zu ermitteln – es sind die Gräber der »unbekannten Männer«. Ebenso sind viele von den Inschriften unleserlich geworden, aber wo man sie noch entziffern kann, ist die Geschichte, die sie erzählen, rührend und kurz. »Hier ruhet mein lieber Mann« – »dem gefallenen Bruder« – »unserm guten Sohn, gestorben den 18. März 1848 für Freiheit und Recht an einem Schuß durch die Brust.« Auch ein Mädchen liegt hier unter den Männern: »Unsere innigst geliebte Tochter und Schwester«. Wer war sie? Führte Haß sie auf die Barrikade oder Liebe, oder hat blinder Zufall die Kugel gelenkt, die sie getötet? Und wer löst mir folgendes Rätsel: »N. N., wurde am 18. März 1848 in der Wohnung seines Stiefbruders von einem Manne durch einen Schuß tödlich verwundet und starb am 20. März 1848.« Eine Buche, die in der Mitte der Gräbersteht, streckt ihre Äste fast über den ganzen kleinen Raum. Ebereschen lassen ihre Zweige herabhängen, und Fliedergebüsch schließt sich an beiden Seiten zum Dach. Ein hölzernes Türchen verwahrt den Eingang, und auf den Planken neben demselben hat sich ein Pärchen niedergelassen, das von allen Plätzen des Friedrichshains sich diesen ausgewählt hat, um ungestört zu lesen. Das Buch, welches sie in der Hand halten, scheint mir so wenig jenes von Lanzelot und Ginevra zu sein, als die beiden, die es lesen, Ähnlichkeit haben mit Francesca und Paolo. Dennoch ahne ich, was geschehen wird, sobald die letzten Spaziergänger sich von den Gräbern entfernt haben. »An jenem Tage lasen wir nicht weiter.«
Nun den Hügel hinab, und wir sind wieder in der vollen Bewegung des Sonntags vor dem Tore, in der Landsberger Allee. Dies ist eine jener Berliner Vorstadtstraßen, die sich unbemerkt ins freie Feld verlaufen. Eine bejahrte Windmühle mit einem Müllerhäuschen steht neben einem ungeheueren Eckhaus neuester Konstruktion, welches zwanzig Fenster Front und fünf Stockwerke hat, gegenüber ist Baugrund, über welchem sich ein unbegrenzter Horizont wölbt. Die Schornsteine des böhmischen Brauhauses, zierlich wie die Türmchen der Alhambra, ragen in die Luft neben den gewaltigen Schloten der Patzenhoferschen Brauerei. Gärten sind rechts und links, in welchen Tausende Platz finden können und heut, an dem warmen Sommersonntagabend, wohl auch Platz gefunden haben. Wandernde Massen bedecken das Trottoir. Vier, fünf Weißbierlokale liegen hier in einer Reihe nebeneinander, jedes mit dem altehrwürdigen Motto: »Hier können Familien Kaffee kochen.« Die Zeit des Kaffees ist indessen vorüber und die des Abendbrotes gekommen. An langen Tischen unter den Kastanien haben sich ganze Haushaltungen niedergelassenund sprechen dem Imbiß zu, welchen die sorgliche Mutter aus Körben und Papieren herauswickelt.
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