Bildnis eines Mädchens
Robustelli unterdrückte ein Seufzen.
»Ich tue mein Möglichstes«, antwortete er. »Aber ich kannIhnen nichts versprechen. Lassen Sie mich zunächst diesem Fotografen oder Journalisten Bescheid geben. Ich werde ihm den Sachverhalt
auseinandersetzen.«
Robustelli erhob sich, leicht erschöpft bei dem Gedanken an all die Aufgaben, die Segantini ihm aufgebürdet hatte.
Der sah ihn mit seinem hypnotisierenden Blick durchdringend an. »Ich glaube an das Schicksal, Robustelli, und daran, dass
nichts ohne einen höheren Willen geschieht. Ich danke Ihnen. Ich wusste, dass ich mich vertrauensvoll an Sie wenden kann.«
***
Achille Robustelli dachte angestrengt nach. Segantini war ein berühmter Mann, und es war nicht ratsam, ihm seinen Wunsch einfach
abzuschlagen. Andererseits wusste er gar nicht mehr genau, wer diese junge Frau, von der Segantini gesprochen hatte, eigentlich
war. Das Hotel beschäftigte einhundertfünfzig Menschen, und obwohl er sie alle irgendwann eingestellt hatte, sah er nicht
jedes einzelne Gesicht vor sich, wenn von der einen oder anderen Person die Rede war. Er erinnerte sich aber wohl, dass seinerzeit
die hübsche Andrina Biancotti ihn gefragt hatte, ob er ein stummes, sonst aber gesundes Mädchen in der Wäscherei des Hotels
beschäftigen könne, es sei ihr zu Ohren gekommen, dass man dort noch Personal brauche.
Sie hatte ihm dann tatsächlich die junge Frau gebracht, die er auch unverzüglich eingestellt hatte. Sein Blick hatte dabei
aber eher Andrina gegolten. Sie war nun einfach mal ein hübsches Ding, prall und frisch wie eine Kastanie, die glänzend aus
ihrer Schale platzt, mit ihrem braunen Haar und den dunklen, lebhaften Augen. Volle Lippen hatte sie, und er hatte den Eindruck
gehabt, dass auch Andrina ihn mit einemganz gewissen Blick betrachtete, obwohl sie um einiges jünger war als er.
Achille Robustelli holte ein silbernes Zigarettenetui aus der obersten Schublade seines schweren Schreibtisches, öffnete es,
entnahm ihm aber keine Zigarette, sondern besah sich flüchtig in der spiegelnden Innenfläche des Etuis, während er sich dabei
über die dunklen Haare strich, die, anders als bei Segantini, schlicht und unauffällig nach hinten gekämmt waren.
Überhaupt fand er sich, verglichen mit Segantini, unscheinbar. Dass seine Mutter ihn für sehr gut aussehend hielt, machte
ihn eher misstrauisch. Nun, er hatte schöne braune Augen, aber nicht den durchdringenden, mesmerisierenden Blick Segantinis.
Und obwohl er dem stolzen Lob seiner Mutter insofern recht gab, dass er tatsächlich ein männlich ausgewogenes, ja römisches
Profil und einen angenehmen, bräunlichen Hautton hatte, ließen ihn die schon leicht angegrauten Schläfen älter aussehen als
seine einunddreißig Jahre.
Aber was verglich er sich auch mit dem Maler! Er hatte eine einflussreiche Stellung, verdiente glänzend und dachte immer häufiger
daran, dass es Zeit war, eine Familie zu gründen. Bis jetzt war ihm die Richtige nur noch nicht über den Weg gelaufen, oder
er hatte sich nicht die Zeit genommen, näher hinzuschauen. Dabei war er durchaus lebenslustig und begeisterte sich, selten
genug für einen Mann, außer für Bridge und Eisenbahnen auch für das Tanzen, weshalb es nicht wenige Frauen gab, die von seinen
Tanzkünsten schwärmten.
Einmal in der Woche spielte er mit Freunden in St. Moritz Bridge, ein heiliger Termin, und wann immer möglich, besuchte er
Tanzanlässe. Er liebte die Polka und den temperamentvollen Galopp und sah sich in diesem Moment mit einer erhitzten Andrina,
die die Röcke geschürzt hatte, schräg durch den Saal preschen.
Bei diesem Gedanken klappte er das Etui zu, auf das er die Initialen A und R hatte eingravieren lassen, verstaute es sorgfältig
wieder in der Schublade und ließ nach dem Mädchen aus der Wäscherei rufen, das nicht sprach.
»Nun …«, Achille Robustelli wusste nicht recht, wie man einen Menschen anspricht, von dem man keine Antwort erwarten konnte. Er
versuchte es – obwohl er sich im selben Moment dafür schämte – dann doch mit dem albernen Satz: »Wie heißt du eigentlich?«,
fügte aber sogleich hinzu: »Entschuldige, ich weiß, dass du nicht sprichst …«
Er betrachtete Nika, die ruhig und abwartend vor ihm stand, und versuchte sich vorzustellen, was Segantini an ihr so faszinierte.
Denn ihre traurige Geschichte allein konnte es doch nicht sein, die Segantini dazu trieb, gerade ihr um jeden Preis
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