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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens
Autoren: Dörthe Binkert
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berühmte Maler Segantini war, wusste
     sie inzwischen. Sie begegnete ihm hin und wieder im Dorf.
    Giuseppina hatte eines Tages in der Wäscherei von ihm erzählt. »Er ist ein Signore. Anders als wir. Er kam mit der Familie
     von Savognin herauf. Soll dort einen Haufen Schulden gehabt haben, denen er mitsamt den Gläubigern entkommen wollte. Er wohnt
     im Chalet Kuoni. Die Baba, die ihnen den Haushalt macht, brachte sie her, sie wusste, dass das Haus zu mieten war. Der Signore
     kommt manchmal ins Hotel, er liebt die Musik. Aber er liebt auch die Signora Bice und hat vier Kinder mit ihr. Und die Baba
     folgt ihm auf Schritt und Tritt wie ein Hund und trägt ihm die Malsachen hinterher. Es heißt, sie liest ihm beim Malen vor.«
    Segantini hatte sich trotzdem in Nikas Gedanken eingenistet. Es war, als habe sich sein Blick tief in sie eingegraben, sodass
     sie sein Bild nicht mehr vertreiben konnte. Und wenn sie am Morgen hoffte, ihm über den Weg zu laufen, fürchtete sie sich
     am Abend davor. Es ängstigte sie, dass ein Mensch so viel Macht über ihr Innerstes haben konnte.
    Sie blickte zu Boden, steckte ihre Hände in die Taschen der Gärtnerschürze und grub die Nägel in ihre Handballen, um sich
     wieder zu fangen.
    »Guten Morgen, Gaetano«, wandte sich Segantini an den Gärtner, »ich sehe, du hast Unterstützung bekommen.« Dann sah er Nika
     an und fragte: »Gefällt es dir hier draußen besser als in der Wäscherei? Ich bin Giovanni Segantini, aber das weißt du sicher,
     wir sind uns ja schon begegnet. Ich habe gehört, du hast bisher in der Wäscherei gearbeitet und wohnst bei den Biancottis.
     Mit Gaetano hast du einen guten Lehrmeister.«
    Er war es also. Er war es gewesen, der bei Signore Robustelli darum gebeten hatte, sie aus der Wäscherei zu nehmen. Nikahob den Blick und sah ihm geradewegs in die Augen. Ausweichen würde sie ihm nicht. Was dachte er sich eigentlich? Dass er
     sie wie ein kleines Mädchen behandeln konnte? War sie aus Mulegns weggelaufen, damit jetzt er wie zuvor der Bauer über sie
     nach seinen Launen verfügen konnte?
    Kein guter Anfang, Segantini spürte das, aber Gaetano, der guter Laune war, verwickelte ihn in ein Gespräch.
    »Gehen Sie diesen Sommer wieder auf die Adlerjagd, Signore Segantini? Ich habe die Fotografie gesehen, wie Sie mit dem Adler
     den Berg heruntersteigen. Sie klettern wie die Einheimischen, man sollte nicht meinen, dass Sie aus Mailand kommen.«
    Segantini schüttelte den Kopf.
    »Ich weiß nicht, Gaetano. Vielleicht. Aber ich habe zu viele Projekte im Kopf. Bilder, die ich in der nächsten Zeit malen
     will.« Er setzte sich auf die Bank, die ein paar Schritte von ihnen entfernt stand, und lud Nika mit einer Geste ein, neben
     ihm Platz zu nehmen.
    »Lass mich nur einen Augenblick mit der Signorina reden, ja? Ich möchte etwas mit ihr besprechen. Sie kommt gleich nach. Arbeite
     ruhig schon weiter.«
    Nika setzte sich neben ihn. Ihr Herz machte unregelmäßige Sprünge wie eine Ziege, die man auf die Weide lässt. So also roch
     er. Holzig. Und nach einer frischen Brise. Anders als die Männer, die sie kannte.
    Er war so befangen wie sie. Um Bice hatte er kaum werben müssen, und danach war ihm so etwas nie wieder in den Sinn gekommen.
     Als ihm bewusst wurde, wie ungeübt er in solchen Dingen war, lachte er auf. Seine Scheu belustigte ihn jetzt selbst.
    »Ich habe deinen Namen vergessen«, sagte er dann, »aber ich wusste einmal, wie du heißt. Jemand hat es mir gesagt, vor Zeiten.«
    Nika schwieg und sah in die Ferne. Sie musste sich sehr konzentrieren, um ihm zuzuhören.
    »Ich erinnere mich«, fuhr er fort, »du redest nicht. Auch das sagte man mir, als ich nach dir fragte. Du warst vielleicht
     fünfzehn damals, sechzehn. Hattest schon die gleichen Augen, warst eingesponnen in deine eigene Welt. Mir ist es früher nicht
     anders ergangen.«
    Segantini betrachtete sie aufmerksam. Sah, wie ihr Gesicht sich jetzt veränderte, weicher wurde.
    Sie war verwirrt. Er wollte sie kennen? Hatte sie früher schon gesehen? Aber sie war ja nie mit Fremden zusammengekommen.
     Und wie hätte sie sein Gesicht sehen und dann wieder vergessen können? Unmöglich!
    »Möchtest du mich nicht fragen, wo ich dich gesehen habe?«
    Sie blickte gequält zur Seite, machte aber keinen Versuch zu sprechen.
    »Ich weiß, dass du sprechen kannst.« Segantini war so beharrlich wie sie. »Oder es zumindest einmal konntest. Ein andermal
     werde ich dir sagen, woher ich dich kenne,
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