Bildnis eines Mädchens
noch nicht verheiratet, Jamie. In Wirklichkeit legst du genauso
wenig Wert auf meine Anwesenheit wie die meisten Ehepaare, die sich so lange kennen wie wir beide uns. Gewohnheit. Alles Gewohnheit,
mein Lieber.«
Sie waren Freunde seit Schultagen, und das war, obwohl sie beide erst um die dreißig waren, eine ziemlich lange Zeit.
»Unsinn«, fuhr James fort. »Es ist eben so. Wenn du mich zulange allein lässt, verwickle ich mich in schwierige Geschichten.«
»Das ist mir ganz neu«, antwortete Edward.
»Du weißt genau, dass ich mir nicht viel aus der Natur mache, und hast mich trotzdem mitgeschleppt. Also habe ich mich ein
bisschen nach schönen Frauen umgesehen. Nicht ohne Erfolg …«
»Auch das ist mir bekannt. Schön für dich. Und wo ist das Problem?«, fragte Edward. Ein Schürzenjäger wie James konnte offenbar
den Hals nicht voll genug kriegen.
»Nun, die Dame ist verheiratet …«
»Aber du wohnst ja schließlich nicht mit mir in einem Zimmer! Ich verstehe immer noch nicht, was du sagen willst«, wunderte
sich Edward.
»Du wirst es gleich verstehen. Ich möchte, dass du dir Kate ansiehst. Du bist doch mein Freund. Und nicht nur das. Es gibt
da noch zwei andere Damen, die im selben Hotel wohnen, dem Hotel Kursaal Maloja. Die anderen beiden sind Tante und Nichte,
wie ich gehört habe.«
»Na und?«
»Sei nicht so nüchtern, Eddie.«
James zielte mit dem Zeigefinger direkt auf Edwards Herz.
»Die Nichte ist auch sehr hübsch. Sie hat blaue Augen, ist schüchtern … also eigentlich ist sie gar nicht schüchtern, nur jung …«
Edward wollte etwas einwerfen, hielt sich aber gerade noch zurück.
»Also, sie sind beide blond und blauäugig. Kate ist älter, vielleicht fünfundzwanzig, und, böse gesagt, ziemlich gerissen.
Sie belegt mich mit Beschlag, als sei ich ihr Sklave. Wir spielen Tennis, Golf, gehen mit ihren Freunden essen. Sie provoziert
mich in einem fort, auch vor den Augen ihres Mannes, und – nun, es ist ziemlich prickelnd, und ich glaube, sie ist nicht prüde.«
James machte eine Pause. »Ich glaube, ich bin bald so weit mit ihr …«
»Und du brauchst erst den priesterlichen Segen, den ersatzweise ich erteilen soll«, entfuhr es Edward, dessen Umgang mit Frauen
sehr viel zurückhaltender war.
»Das sowieso. Nein, es ist nur, dass Kate mich immer wieder mit der Nase auf die Kleine stößt, und ich weiß nicht, was das
soll. Als ob ich ihr immer wieder beweisen müsste, dass ich sie allen anderen vorziehe. Und ich glaube, sie spielt gern mit
dem Feuer. Sie sieht genau, dass das Mädchen dabei ist, sich in mich zu verlieben. Aber die Tante klebt an ihr wie eine Briefmarke.«
Edward ahnte, dass er noch weitere Segnungen vornehmen sollte.
»Aber eine Affäre kannst du nur mit deiner Kate haben, wenn du auch nur einen Funken Anstand hast.«
»Du weißt doch, dass ich keinen Anstand habe«, antwortete James nur.
Lust und Liebe
Segantini kleidete sich sorgfältig an. Das weiße Hemd. Kämmte sich. Überprüfte, ob seine Schuhe geputzt waren, was er immer
wieder vergaß, sah sich in die Augen, auf deren Grund die Melancholie seiner Kindheit nicht auszulöschen war.
»Ich brauche dich heute nicht, Baba«, sagte er freundlich zu dem Dienstmädchen, als er in die Küche trat. »Ich male heute
nicht.«
Bice stand am Fenster und wandte ihm den Rücken zu. Er drehte sie zu sich um, sah in ihr Gesicht, dessen blasse Augen nicht
verrieten, was sie dachte und noch weniger, was sie fühlte, und küsste sie auf die Stirn. Sie fragte nichts, er streichelte
ihr über die Wange, kurz und dankbar, und verließ das Haus.
Signore Robustelli hatte Wort gehalten. Segantini kannte den Gärtner des Hotel Kursaal Maloja, er unterhielt sich ab und zu
mit ihm, wenn er beim Hotel vorbeikam. Jetzt sah er den Alten schon von Weitem. Das Mädchen war bei ihm. Unter dem Kopftuch,
das es hinten im Nacken geknotet hatte, quollen seine rotblonden Haare hervor, es nickte zu den Worten des Gärtners, der ihm
etwas zu erklären schien.
Segantini war zu den beiden getreten, aber der bedächtige Gaetano schloss erst seine Ausführungen, ehe er grüßte. »Die Arven
heißen auch Zirbelkiefern. Sie blühen jetzt, im Juni und Juli. Und siehst du, die Arven stehen gern da, wo auch die Lärchen
wachsen …«
Nika zeigte nicht, wie sehr sie erschrak, als Segantini vorihnen stehen blieb. Dass der Mann mit den schwarzen Locken und den dunklen Augen der
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