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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens
Autoren: Dörthe Binkert
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aber vielleicht willst du es mich eines Tages auch selbst fragen.« Er machte eine
     Pause und zog die Augenbrauen zusammen.
    »Ich habe dich vor ein paar Tagen gesehen, am See. Du beugtest dich über das Wasser und besahst dich darin wie in einem Spiegel.
     Du hast dir die Haare aus dem Gesicht gehalten   …«, er machte die Geste nach, »…   so.«
    Nika nickte und lächelte ihn zum ersten Mal an.
    »Ich muss immer wieder daran denken«, fuhr er fort. »Die Geste geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe ein Bild vor Augen,
     das ich malen möchte. Du hast mir den Gedanken eingegeben, verstehst du? Du bist das Modell, das ich dabei vor Augen habe.«
    Ja, sie verstand. Er wollte sie mit den Augen berühren. Sie nickte. Das wollte sie auch.
    Segantini hatte sich von der Bank erhoben. Eine Wolke, die einsam im Himmel schwamm, hatte sich halb vor die Sonne geschoben.
     Wie ein riesiger Wattebausch sog sie das Licht auf und tauchte den Fleck, auf dem sie sich befanden, für einen Moment in Halbschatten.
     Er stand vor Nika, eine imposante Erscheinung in Schwarz, die sich vor ihr aufbaute wie die Statue eines Helden, der prophetisch
     in die Ferne blickt.
    Segantini dachte eine Weile nach und sagte schließlich: »Geh wieder zu Gaetano. Ich weiß jetzt, wo ich dich finde. Ich muss
     mich auf die Suche machen nach dem richtigen Ort für das Bild. Eine Quelle, eine Quelle muss es sein, über die du dich beugst.«
    Als er wieder lächelte, legte sie schnell die Hand auf ihre Brust, als müsse sie sich vor seinem Lächeln schützen. Er lachte,
     als er ihre Geste bemerkte, nahm die Hand von ihrer Brust und hielt sie einen Moment in beiden Händen fest.
    »Danke«, sagte er, »dass du das für mich tun willst.« Ihr Blick war tatsächlich so unergründlich, wie er es in seinen Fantasien
     vor sich sah. »Ich komme bald wieder. Und, schreib mir deinen Namen auf. Dann musst du ihn nicht aussprechen. Aber wissen
     will ich ihn.«
     
    Nika saß noch immer da und rührte sich nicht. Als würde das, was gerade geschehen war, sich in Nichts auflösen wie ein Traum,
     wenn sie sich auch nur im Geringsten bewegte. Segantini war nicht zufällig vorbeigekommen. Er hatte sie gesucht. Und er würde
     wiederkommen.
    »Na, der Signore hat dich wohl in eine Salzsäule verwandelt«, bemerkte Gaetano gutmütig, »dass du immer noch da sitzt und
     dich nicht vom Fleck rührst? Ist eine Ehre, dass er dich hier aufsucht, das muss ich schon sagen, während im Hotel die feinen
     Damen und Herren darauf hoffen, ihm zubegegnen. Darauf kannst du dir was einbilden! Aber jetzt komm, wir haben noch viel zu tun.«
    ***
    Nika liebte die Arbeit im Park des Hotels. Sie hatte Andrina zu verstehen gegeben, dass auch sie ein Heft wolle, als diese
     bei den Biancottis ein Haushaltsbuch einführte, in welches sie alle möglichen Zahlen eintrug, und Andrina hatte ihr tatsächlich
     eines besorgt und Farbstifte dazu. Sie rundete den Preis zu ihren Gunsten auf mit dem Hinweis, dass die Besorgung sie viel
     Zeit gekostet habe, und außerdem wusste Nika sowieso nicht, was Papierwaren kosteten. Nika zahlte mit dem ersten eigenen Geld,
     das sie in ihrem ganzen Leben je besessen hatte, und bedauerte nur, dass Gian nicht da war, dem sie ihre Schätze gern gezeigt
     hätte. Aber der war vor wenigen Tagen mit den Kühen hinauf nach Grevasalvas gezogen. Er würde verstehen, was Heft und Farben
     ihr bedeuteten. Am nächsten Sonntag, nach der Predigt, für die er nach Maloja herunterkam, wollte sie mit ihm nach Grevasalvas
     hinauf. Das hatte er sich gewünscht, und bis dahin würde sie die ersten Blumen und Pflanzen gezeichnet haben. Der Enzian blühte
     schon in seinem überwältigenden Blau, und bald würden die Alpenrosen rote Tupfen in die Landschaft setzen.
    Doch bei allem verstörenden Glück, das sie empfand, seit Segantini sie aufgesucht hatte, gab es etwas, das sie quälte. Sie
     konnte ihm zwar ihren Namen aufschreiben, aber es würde ein Gekritzel werden. Die Posthalterin hatte den Unterricht allzu
     früh abgebrochen und das Lehrbuch samt seinen Anweisungen für ein gottesfürchtiges Leben wieder im muffigen Dunkel der Schublade
     vergraben. Sie musste schreiben üben. Sie würde seinen Namen schreiben, hundertmal, und nie wieder sollte er ihren Namen vergessen.
     
    In Savognin gab es eine Schule, aber für die Kinder in Mulegns war der Weg dorthin im Winter zu beschwerlich, im Sommer wurden
     alle bei der Arbeit gebraucht. Immerhin, einige hatten doch
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